Die vergessene Heimat

Diesen im September 2020 erschienenen, auf einer wahren Geschichte basierenden, Roman schenkte mir mein langjährigster Freund. Er fand, die Mischung aus DDR-Geschichte und medizinischem Erleben sei etwas für mich und hoffte, das Buch möge mir nicht zu populärwissenschaftlich sein (ist es nicht). Monate lag es auf dem Stapel der noch zu lesenden Bücher ganz oben. Gelesen habe ich es viele hundert Kilometer entfernt von meiner Heimat. Vielleicht hat es mich deshalb intensiv gepackt. Innerhalb von drei Tagen war die 448-Seiten-Lektüre bewältigt. Doch der filmreife Stoff bewegt noch lange nach dem Zuklappen des Buches.

Literarisches Neuland für die Autorin

Die mir vorher unbekannte Autorin Deana Zinßmeister hat sich als Verfasserin zahlreicher historischer Bücher einen Namen gemacht. Mit diesem Roman betrat sie literarisches Neuland. Im Saarland geboren und noch heute lebend, wusste sie, dass ihre Eltern – im Buch Ernst und Leni – 1961 aus der DDR geflüchtet waren. Einen Anlass, sich mit dieser Vergangenheit zu beschäftigen, gab es lange nicht. Bis der Vater an Demenz erkrankt und die Familie durch seine „Fluchtplanungen“ mit bis dato verschwiegenen Erinnerungen konfrontiert.

Spannungsbogen von einst bis heute

Im Buch wechseln sich Kapitel der Gegenwart und historische Rückblenden ab. Das schafft und hält die Spannung bis zur letzten Seite. Deana Zinßmeister begnügt sich nicht mit bloßer Nacherzählung. Sie hinterfragte und recherchierte gründlich. So lässt sich der damalige Alltag im Berliner Grenzgebiet gedanklich und bildhaft nachvollziehen. Auch wenn sich dieser mit seiner Spezifik von den anderen einstigen DDR-Bezirken unterschied, werden beklemmende gesellschaftliche Entwicklungen und menschliche Verwerfungen beschrieben, die heute gelegentlich vergessen werden.

Demenz – wie sie wirklich sein kann

Daneben schildert die Autorin sehr authentisch den psychischen und körperlichen Verfall des Vaters durch Demenz. Damit verbunden die sich durch die plötzlichen Zusatzbelastungen entwickelnde Zerreißprobe für die Familie. Die Informationen, die sie „nebenbei“ über dieses komplexe Krankheitsbild gibt, sind nützlich, ohne belehrend zu wirken. Das medizinische Personal ist im Roman erstaunlicherweise durchweg positiv besetzt, von Schwester Beate im Notaufnahmelager bis zum Stationsarzt im Krankenhaus.

Verschriftlichte Dankbarkeit

Deana Zinßmeister widmet sich empathisch einem Thema, von dem man glaubt, alles gesehen und gehört zu haben. Ihr „westdeutscher Blick“ lenkt die Sicht auf historische Gegebenheiten, die auch in ostdeutschen Familien, aus denen nie jemand flüchtete, unbekannt oder unbesprochen sind. Über Begriffe wie „Freiheit“ oder „Wohlstand“ lässt sich aus unterschiedlicher Sozialisierung rege diskutieren. Bemerkenswert ist die verschriftlichte Dankbarkeit ihren Eltern gegenüber, deren organisierte Gruppenflucht mit sieben weiteren Familienmitgliedern, darunter zwei Kindern, kurz nach dem Mauerbau auch für damalige Verhältnisse spektakulär war. Anders als der Buchtitel vermuten lässt, haben die nach ihrer Flucht mehr als ein Jahrzehnt mit einem Haftbefehl verfolgten Eltern ihre Heimat nie vergessen. Das betont die Autorin im Nachwort.

Der Ansatz, „in den Schuhen des anderen zu gehen“, empfiehlt sich nicht nur für den Umgang mit an Demenz Erkrankten, sondern auch für das deutsch-deutsche Zusammenwachsen. Das ist Deana Zinßmeister hervorragend gelungen.

Deana Zinßmeister, Die vergessene Heimat, Verlag Goldmann, ET: 21.09.2020, 448 Seiten, Taschenbuch, ISBN: 978-3-442-49100-1

rezensiert im April 2021