Wahnsignale


Das kleine Buch hat es in sich. Auf dem grün-türkisen Titel brausen Gewitterwolken heran. Krimi? Thriller? Philosophischer Aufsatz? Chronik? Liebesgeschichte? Surreales Märchen? Das ist nicht leicht zu beantworten, denn das Werk hat von allem etwas. Die Handlung ist in einer ostdeutschen Stadt am Meer angesiedelt und fasst in Worte, was Anfang der 1990er Jahre viele Menschen nicht aussprechen konnten: das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Auf dem Buchrücken steht: „[…] Das knappe Jahr der Freiheit ist vorbei, die DDR existiert nicht mehr. Statt der versprochenen blühenden Landschaften begannen Glaspaläste die wenigen Mutigen auszukehren, die sich mit kleinen Läden über Wasser zu halten versuchen. […]“

Andreas Hähle schreibt über Existenzangst, Depressionen, die Welt und Europa. Über das Schweigen und Zwischentöne. Über Verlierer und Fragen, die kommende Generationen einmal stellen könnten. Das alles metaphorisch, in kurzen Sätzen.

Beispiel: „… Wir haben einen Schatz zu verhökern: Die Vergangenheit. Und einige Fehler wieder gut zu machen. Unsere Kultur zu erneuern, … […] … Alles verjährt. Alles wird vergessen. Schönes bleibt haften.“

Oder: „… Der Soul ist stärker, wie allgemein jeder Abend, wenn wir über Geschichte diskutieren. Die Zukunft, unsere Zukunft, ist offen wie eine Wunde.“

In 24 Kapiteln wechseln die Erzählebenen. Was ist Wahrheit, wo beginnt Paranoia? Der Ich-Erzähler legt seinen Protagonisten sprachlich Brillantes in den Mund. Kernig, direkt, ironisch, humorvoll, gelegentlich düster, verzweifelt. Das ist mitunter anstrengend – wie es der Umgang mit vom Wahn Befallenen mit sich bringt. Andreas Hähle reist mit uns durch das Seelenleben eines feinfühligen Menschen. Einen, den (s)eine zerstörte, zerrissene Gesellschaft umtreibt. In psychiatrischen Klinikberichten liest man heute in solchen Fällen von schlecht oder gar nicht akzeptierten „biografischen Gewordenheiten“, denen am besten mit Pharma-Querelen beizukommen ist.

Der Autor glaubt an die Kraft der Liebe. Und er verschafft denen Gehör, die sich eine andere, eine menschlichere, Gesellschaft wünschen. Das sollte Pflichtlektüre für alle sein, die ostsozialisierte Menschen verstehen wollen. Denn: „Zerrissen wird man nur dann, wenn man gar nichts tut.“

Andreas Hähle (Jahrgang 1967) starb im April 2019 an Krebs. Er hinterlässt kluge Worte, wichtige Gedanken und eine große Lücke. Der Mann mit dem bunten Lebenslauf wird fehlen als leise, kluge Stimme aus dem Osten. Seine Bücher und Rocktexte bleiben.

Andreas Hähle, Wahnsignale, Edition Outbird, 1. Auflage Dezember 2018, 202 Seiten, ISBN-13: 978-3959151177

rezensiert im Juni 2019