Im Dreieck

Auf diesen 2013 gedrehten Dokumentarfilm stieß ich erst nach einer Trauermitteilung. Der Protagonist Heiner Hinrichs starb Ende November 2021 84-jährig in Stralsund.

Berühmt-berüchtigt war er schon mit 27 Jahren: Der gelernte Maurer und Bauingenieur galt in den 1960-er Jahren als „jüngster und erfolgreichster Bauleiter von Halle-Neustadt“. Auch die Dokumentation steigt damit ein, dass das Interhotel Halle 1966 unter seiner Bauleitung in Rekordzeit errichtet wurde. Schwarz-weiße Rückblenden inklusive. Es folgten Zentralpoliklinik, Ambulatorien, Schwimmhalle, Kindergärten, Kaufhallen. Gelegentlich fehlte die Baugenehmigung.

Allwissend, aber unordentlich

Seine Freundin beschreibt den im Film 76-Jährigen als allwissend, belesen und interessiert. Andererseits regt sie sich über seine „furchtbare Unordnung“ auf. Sie hat allen Grund, denn der von einem früheren Staatsfunktionär als „Baukapitän“ bezeichnete Sohn eines Seemanns zieht um. Aus Halle-Neustadt, wo er selbst seit 1974 lebte, an die Ostsee. 2.000 Bücher, alte Kisten mit jahrzehntealten Dokumenten inklusive der Doktorarbeit seiner geschiedenen Frau, Banner der Arbeit, Baupläne, alte Dias und unzählige Nippes sind von ihm bezüglich ihrer Umzugswürdigkeit zu bewerten. Das dauert. Dazwischen plaudert er über seine Kindheit, seinen Werdegang, seine Arbeit. Und über die Frauen.

Leben, Liebe, lauter Baustellen

Zwischen Umzugskartons treffen sich seine zwei Freundinnen erstmals persönlich. Unverhofft. Kurz. Die Kamera hält minutenlang darauf. Die Mimik der Frauen spricht für sich. Dazwischen ein etwas kauziger, eigenwilliger Mann, der sein Leben genießt, soweit ihm das mit „vier Krankheiten“ möglich ist.

Bundesarchiv, Bild 183-H0909-0009-001-T2 / Siegfried Voigt / CC-BY-SA 3.0.
Radialer Delta-Kindergarten in Halle-Neustadt, im Hintergrund Wohn-Block 10.

Relativ spät wird (mir) klar, dass „Im Dreieck“ keinen architektonischen Bezug hat, sondern seinen Lebensentwurf meint. „Leben, Liebe, lauter Baustellen“ ist also nicht von ungefähr die Unterzeile des Dokumentarfilms. Dazwischen ein Rückblick zur Eröffnung des in fünf Monaten errichteten Delta-Kindergartens 1968 Halle-Neustadt. Markenzeichen: Die vom Architekten Herbert Müller entwickelten hyperbolisch-paraboloiden Betonfertigteilschalen, die das Dach von oben wie eine Sonne aussehen lassen.

Persönliche Rückblicke und wertvoller Bonus

Heiner Hinrichs scheint zeitlebens kein Mann gewesen zu sein, dem man den Mund verbieten konnte. Arbeiterkind, Leistungssportler, Begünstigter und Gemaßregelter der DDR. Was genau ihm politisch widerfahren ist, wie es ihm nach der Wende erging, bleibt weitgehend im Dunkeln.

Für dieses Projekt interessante Einblicke ins Gesundheitswesen liefert der Film nicht. Besonders wertvoll ist deshalb der auf der DVD enthaltene Bonusfilm „Heiner Hinrichs – Protokoll eines Charakters“, den die DEFA 1969 drehte. Hier ist der einstige Vorzeige-Bauleiter in seinen vielleicht besten Jahren zu sehen. Auf dem Bau, mit seiner Familie und bei Produktionsbesprechungen. Aus heutiger Sicht schon deshalb nicht uninteressant, weil Kritik durchaus möglich war. Gut nachvollziehbar ist seine Erklärung, woher er seine Energie nimmt. Historisch interessierte Zuschauer*innen erfahren, dass das Ambulatorium, ein 15-Millionen-Projekt, in zehn Monaten errichtet wurde, und warum Hinrichs‘ Ex-Frau die Bauarbeiter medienwirksam gegen Grippe impfte.

Was aus dem kleinen Mädchen wurde, das der Reporterin bei der Eröffnung des Delta-Kindergartens im Brustton der Überzeugung ins Mikro sprach, dass sie Krankenschwester werden will, wäre spannend.

Glatteis mit Sonnenschirm

Das Schlussbild von „Im Dreieck“ lässt vieles offen. Heiner Hinrichs tippelt, mit einem Gartensonnenschirm über der Schulter, aufs Glatteis. Dort steht er mit verschmitztem Lächeln und trotzt den Windböen. Was für eine Metapher!

In der Filmankündigung hieß es: „Im Dreieck ist auch ein Film über Liebe im Alter und eine alte Liebe, die nicht rostet, eine einzigartige und zum Teil urkomische Begegnung mit einer an Erfahrungen reichen Generation, deren Stimme langsam leiser wird. Es lohnt sich Heiner Hinrichs zuzuhören, ehe dessen Stimme verhallt.“

Stimmt.

Im Dreieck. DVD, 42film Produktion & MDR 2013. FSK ab 0. Spieldauer: 88 Minuten + 55 Minuten Bonusfilm „Heiner Hinrichs – Protokoll eines Charakters“ (DEFA-Studio für Dokumentarfilme 1969), ISBN 978-3-00-045694-7. Ab 13,99 € bei 42film oder amazon

Ergänzend empfehlenswert:
Der Millionenblock (10:45 min). Mediathek Sprachenzentrum.

Veröffentlicht im Dezember 2021