Kinder von Hoy

Warum stelle ich dieses, im September 2021 erschienene, Buch hier vor? Nicht, weil es schon SPIEGEL-Bestseller ist. Medizinisches Personal spielt auch keine tragende Rolle (wenngleich es vorkommt). Gebe es eine Hall of Fame für Hoyerswerda, wäre die Autorin Grit Lemke meine erste Anwärterin dafür.

„Aus Hoyerswerda kommen Sie?“ Wer in der einstigen sozialistischen Vorzeigestadt Kindheit und Jugend verbracht hat, kennt diese Frage. Oft verbunden mit einem speziellen Blick, irgendwas zwischen Mitleid und schüchterner Bewunderung. Nicht erst seit 1991, als Fernsehbilder über rassistische Ausschreitungen vor einer Vertragsarbeiterunterkunft für Entsetzen sorgen. Von diesem Phänomen berichteten mir alle Freunde und Bekannte mit Hoyerswerda-Biografie – unabhängig voneinander.

Authentische Atmosphäre

Grit Lemke hat authentische Atmosphäre konserviert. Dialekt inklusive. Das kann nur beurteilen, wer – wie sie – in dieser Zeit, in dieser Region gelebt hat. Also besonders die 1960-er, 1970-er Jahrgänge und deren Elterngeneration. In ihrem dokumentarischen Roman erzählt sie als Ich-Erzählerin mit Kollektiv. Schon klar. Verdächtiges Wort. Das Kollektiv sind ihre Weggefährt*innen, die sie erzählen lässt. Nicht am Stück, sondern zu passenden Themen. Die meisten der Freundinnen und Freunde sind Zugezogene. Die Eltern arbeiten im Gaskombinat. Kurz: „in Pumpe“.

Zitat:

„Wir werden wissen, von wo die Eltern nach Hoy gekommen sind, werden an den Familientischen gesessen, Geburtstage, Silvester und Urlaube zusammen gefeiert haben.“

Normale Heimat oder heimatliche Normalität?

Die Autorin erinnert sich an eine Kindheit und Schulzeit, die sich so möglicherweise auch in anderen Neubaustädten wie Halle-Neustadt, Dresden-Prohlis oder Rostock-Lütten Klein abgespielt haben könnte. Mit allen Freiheiten, mit allen Vor- und Nachteilen. Auf jeden Fall transportiert sie ein Gefühl von Heimat und Normalität. Das verwundert anderswo Sozialisierte oft. Da muss man doch weggewollt haben? Nicht zwingend. „Es war eben so.“ Heute müssen nicht wenige in der Neustadt von Hoyerswerda Aufgewachsene damit klarkommen, dass ihre früheren Wohnhäuser, Kindergärten, Kulturstätten abgerissen wurden.

Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit

Im letzten Drittel des Buchs kippt die Stimmung. Es wird düster und liest sich nicht mehr so flüssig. Das liegt nicht am Schreibstil. Eher an den schwer zu verdauenden Anekdoten, die man so eigentlich nicht nennen möchte. Rassismus kam nicht über Nacht in die Stadt. Aus der Sicht einer Hoyerswerdschen, wie die Einheimischen genannt werden, klingen die Erklärungen anders als in offiziellen Deutungen. Plausibel. Der Umgang mit der Historie scheint teilweise heute noch schwierig. Das merkt Jede*r, der ernsthaft zu Aspekten der jüngeren Stadtgeschichte forscht. Grit Lemke legt den Finger in Wunden. Das mag vielen nicht passen. Auch deshalb ist dieses Werk so wichtig.

Aus der Verlagsankündigung:

Die Autorin Grit Lemke, die schon mit ihrem Grimmepreis-nominierten Film Gundermann Revier einen tiefen Blick in das Leben ihrer Heimatstadt Hoyerswerda geworfen hatte, arbeitet nun die Biografie ihrer komplexen Generation auf. In einem dokumentarischen Roman verschränkt sie virtuos die Stimmen der Kinder von Hoy zu einer mitreißenden Oral History. 

In den sechziger und siebziger Jahren waren sie mit ihren Eltern nach Hoyerswerda gekommen, eine DDR-Musterstadt: aus dem Heideboden gestampft, aus Bauelementen zusammenmontiert. Morgens rollen die Eltern in Schichtbussen davon, die Kinder wachsen in einem großen Kollektiv auf. Die Erzählerin wird Teil der Kultur- und Kunstszene um Gerhard Gundermann, den Springsteen des Ostens. Eine Art proletarische Bohème entwickelt sich: nachts im Kellerclub, morgens im Schichtbus. Doch der Wiedervereinigung folgen Massenentlassungen, und ein latent vorhandener Rassismus gegen in der Stadt lebende Vertragsarbeiter sowie eine schnell erstarkende Rechte führen zu Ausschreitungen. Die Kulturszene bleibt tatenlos, doch auch für sie wird danach nichts mehr sein, wie es war . . .

Grit Lemke, Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. suhrkamp nova, ET: 12.09.2021, 255 Seiten, Klappenbroschur, 978-3-518-47172-2

vorgestellt im Dezember 2021