Schwester bis zum letzten Tag
Kerstin Kurth ist mutig. Sie ist die erste Sprechstundenschwester, die sich bereit erklärt hat, auf der gleichnamigen Website in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden. Warum? Sie ist neugierig, was dabei herauskommt und sie will den Berufsstand repräsentieren. „Den gibt es so heute gar nicht mehr“, begründet die 63-Jährige. „Ich bin wirklich die Erste?“, fragt sie. „Das ist erschreckend.“ In ein paar Monaten geht sie in Rente. Nach 47 Berufsjahren. Vielleicht macht sie das entspannter als noch im Arbeitsleben stehende Kolleginnen.
Gern wäre sie Krankenschwester geworden, wie ihre Tante und ihre Cousine. Oder zur Erweiterten Oberschule gegangen, um danach zu studieren. „Dafür waren meine Zensuren aber zu knapp“, bedauert sie. Also gehörte sie zu den letzten Lehrlingen im Beruf der Sprechstundenschwester. Von 1972 bis 1974 absolvierte sie ihre Ausbildung an der Medizinischen Fachschule am damaligen Bezirkskrankenhaus Cottbus. „Wir hatten alles in der Ausbildung: im ersten halben Jahr war ich auf Station, später in der Kindersprechstunde, in der Chirurgie, in der Poliklinik, im Röntgen, in der Physiotherapie.“ Die praktischen Fähigkeiten erwarb die gebürtige Annaberg-Buchholzerin in der heute nicht mehr existierenden Poliklinik Vetschau im Spreewald. „Damals trugen in den Polikliniken tätige Krankenschwestern noch Hauben“, erwähnt sie eine Anekdote.
[Anmerkung: In der DDR konnten nur 5 bis 10% eines Jahrgangs das Abitur ablegen.]
Auf dem Facharbeiterzeugnis, ausgestellt am 4. Juli 1974, wird Kerstin Kurth eine mit „gut bestandene“ Prüfung bescheinigt. Interessant: Neben den medizinischen Fächern wurden auch Grundlagen der Elektronik, Grundlagen der BMSR-Technik und Grundlagen der Datenverarbeitung gelehrt. Maschineschreiben war nicht Kerstins Ding – auf dem Zeugnis steht die einzige „4“. Ihre Lieblingsfächer, nach den Einser-Zensuren zu urteilen: Sport, Erste Hilfe sowie Statistik und Dokumentation. Das „kleine Latinum“ kam ihr im Leben oft zugute. „Ich werde laufend gefragt, was dieser oder jener medizinische Begriff bedeutet“, lacht sie. Ihre mit „2“ benotete Hausarbeit behandelt eine „Arbeitszeitanalyse einer Sprechstundenschwester über eine Arbeitswoche“.
Von der Facharbeiterin zur Fachschulanerkennung
Im Jahr 1974 wandelte die DDR die ursprünglich zweijährige Facharbeiterausbildung in ein drei Jahre dauerndes medizinisches Fachschulstudium um. Drei Jahre später sprach der Rat des Kreises Cottbus-Stadt Kerstin Kurth „in Würdigung des verantwortungsvollen humanistischen Wirkens im Gesundheits- und Sozialwesen […] und ihrer erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen“ die medizinische Fachschulanerkennung und die staatliche Anerkennung als Sprechstundenschwester aus. Grundlage war eine Anordnung vom 21. August 1975 über die medizinische Fachschulanerkennung für Krankenschwestern und andere mittlere medizinische Fachkräfte (GBl. I Nr. 36 S. 642). Damit ist Schwester Kerstin examinierte Sprechstundenschwester.
Sie erinnert sich an Sticheleien ihrer Lehrzeit: „Ihr seid nur Lehrlinge, wir sind Studenten.“ Die Debatte, ob Krankenschwestern „die besseren Schwestern“ sind, ist also nicht neu. Doch Schwester Kerstin hat darauf eine klare Antwort: „In der Sprechstunde war man allein und eigenverantwortlich für alles zuständig – vom Tupfer drehen, über das Kanülen reinigen bis zum Organisieren oder bei Notfällen. Auf Station ist man nie allein, da ist man mitgelaufen.“ Die psychische Belastung im ambulanten Bereich schätzt die langjährige Leichtathletin noch heute höher ein als die körperliche.
Nach der Ausbildung wechselte Kerstin Kurth in die Betriebspoliklinik des früheren VEB Reifenkombinat Fürstenwalde (Spree), rund 60 Kilometer südlich von Berlin. Ihr Arbeitsplatz: die allgemeinmedizinische Sprechstunde des Ärztlichen Direktors. Gelegentlich vertrat sie Schichtschwestern – eine Tätigkeit, die normalerweise Krankenschwestern vorbehalten war. Und auch hier gab es spitze Bemerkungen, diesmal von einer Ärztin: „Schwester Kerstin, wenn Sie mehr Geld verdienen wollen, hätten sie Medizin studieren sollen.“ Hätte sie ja gern, wäre es möglich gewesen. „Chirurgie hat mich immer fasziniert.“
1977 und 1980 wurden ihre Kinder geboren. Kein Grund, zu Hause zu bleiben. Knapp vier Jahre arbeitete sie in der Kinderkrippe „Sputnik“. In der DDR kein Problem, denn Krippenerzieherinnen waren als mittlere medizinische Fachkräfte ausgebildet und anerkannt. Von 1983 bis zum Sommer 1991 ging sie zurück in die Betriebspoliklinik des Reifenwerkes. 1985 schloss sie eine einjährige berufsbegleitende Weiterbildung zur Betriebsschwester erfolgreich ab.
Nach der Wende
„Nach der Wende hat sich für mich beruflich erst mal gar nichts geändert“, blickt Schwester Kerstin zurück. Sie arbeitete weiter für die Arbeitsmedizinerin, für die sie auch vorher die Sprechstunde geführt hatte. Sogar im gleichen Gebäude. Einziger Unterschied: die Zentrale ihres überbetrieblich tätigen Arbeitgebers saß nun im Westen. „Wenn ich von anderen Lebensläufen höre, kann ich nur sagen: ich hatte Glück. Es gab bei mir keine berufliche Lücke, ich war nie arbeitslos, alles ging ineinander über.“ Auch familiär lief alles optimal: „Die Familie hat zusammengehalten. Es gab nach der Wende ein Angebot für meinen Mann, nach Frankfurt am Main zu gehen, aber wir haben uns fürs Bleiben entschieden.“
Schwester Kerstins berufliche Tätigkeiten haben sich allerdings gewandelt. „Die Digitalisierung war zunächst ein Hemmschuh“, gibt sie zu. „Arbeitsabläufe mussten neu organisiert werden. Funktionsdiagnostik musste ich lernen.“ Gesundheitsschutz und Prävention in Betrieben findet im Außendienst statt. „Koffer voll Equipment schleppen gehört dazu.“ Vorträge halten auch. Über Hautschutz zum Beispiel. „Ich bin nicht der Typ, der sich gerne vor die versammelte Mannschaft hinstellt – das können Jüngere machen“, schmunzelt sie.
Was die arbeitsmedizinische Assistentin gut findet: „In der Ambulanz ist es heute nicht relevant, ob jemand ausgebildete Sprechstundenschwester oder Krankenschwester ist. Ich denke, es gibt bei Abläufen und Bezahlung keinen Unterschied.“ Auch wenn sie offiziell als „Arzthelferin“ eingestuft ist, meldet sie sich wie früher mit „Schwester Kerstin“ am Telefon. „Eine Zeitlang habe ich mich mit Frau Kurth gemeldet, weil das bei Kollegen im Westen so üblich war. Da haben die Leute gefragt, ob Schwester Kerstin nicht da ist“, lacht sie. „Das ist Berufsstolz, ich bin ausgebildete Schwester, also nenne ich mich auch so. Ich bin Schwester bis zum letzten Tag.“
Ein paar Reliquien aus Poliklinik-Zeiten haben die Jahrzehnte überdauert. Die typischen weiß-grünen Handtücher mit der Aufschrift „Gesundheitswesen“ decken die Tastaturen ab. Und auch ihre rosafarbenen DDR-Schwesternkittel hat Kerstin Kurth aufgehoben. „Manchmal ziehe ich die im Dienst noch an“, lacht sie über die seltenen „Traditionstage“.
Schwester bis zum letzten Tag
Etwas anderes zu machen, war nie ein Thema für sie: „Ich habe meinen Beruf immer gern ausgeübt.“ Zwischenzeitlich bewarb sie sich in Praxen und in Kliniken. „Ich wollte sehen, wo ich stehe“, begründet sie. Die Wechselidee verwarf sie jedes Mal schnell wieder. „Die Eingruppierung und die Arbeitsbedingungen waren unter aller Kanone“, fasst sie zusammen. Beruflich organisiert war sie deshalb nie. „Das Thema ist nicht aufgekommen“, sagt sie lapidar. Vor dem Mauerfall engagierte sie sich gewerkschaftlich. „Es hat Spaß gemacht. Aber nach 1990 war ich nicht mehr aktiv.“ Vieles habe sich geändert. Zu Frauen, die die Ausbildung gemeinsam mit ihr absolvierten, hat sie nach mehreren Umzügen keinen Kontakt mehr.
Jungen Frauen, die sich mit dem Gedanken tragen, Medizinische Fachangestellte zu werden – das heutige Pendant zur einstigen Sprechstundenschwester und der mit 15.960 im Jahr 2018 neu geschlossenen Ausbildungsverträgen zweitbeliebteste Ausbildungsberuf bei Frauen (Quelle: statista), rät sie: „Wenn sie unbedingt in diesen Beruf einsteigen wollen, sind ihre Verdienst- und Aufstiegschancen in Medizinischen Versorgungszentren oder im öffentlichen Dienst meist besser als bei niedergelassenen Ärzten.“
Nun, da der Ruhestand naht, nimmt sie sich vor, ihn zu genießen. Die Kollegen haben sie schon gefragt, ob sie ab und zu einspringen würde. Das lässt sie momentan für sich offen. Wie viel Rente sie zu erwarten hat, weiß Kerstin Kurth. Immerhin vierstellig. Über Altersarmut denkt die Frau, die fast durchgehend Vollzeit gearbeitet hat, trotzdem nach. „Wenn ich allein wäre, wäre es schwierig“, kommentiert sie. Sie trägt ein Shirt einer Laufveranstaltung. Ab ihrem zehnten Lebensjahr trieb sie Leichtathletik. Seit 20 Jahren läuft sie wieder. „Nur noch kurze Strecken, bis zehn Kilometer, zwei bis drei Mal pro Woche.“ Auch an Laufwettbewerben nimmt sie regelmäßig teil. Nächstes Jahr will sie in Spanien laufen. Auf dem Jakobsweg. „Dafür war nie Zeit“, sagt Kerstin Kurth. Doch noch arbeitet sie als Sprechstundenschwester. „Bis zum letzten Tag.“
veröffentlicht im August 2019
Fotos, wenn nicht anders gekennzeichnet: Dagmar Möbius