Schwester Gabriele *1957

Seit über vier Jahrzehnten in der Allgemeinmedizin

Die Dresdnerin Gabriele Böhme arbeitet seit 1977 ununterbrochen im Beruf. 35 Jahre war die examinierte Sprechstundenschwester für eine Allgemeinmedizinerin tätig. Nach deren Ruhestand blieb sie ihrer Praxis treu und lernt mit ihrem neuen Chef täglich Neues dazu. Die Tage bis zur Rente zu zählen, kann sie sich nicht vorstellen. Dafür liebt sie ihre Arbeit zu sehr.

Gabriele Böhme (Jahrgang 1957) ist seit 1977 examinierte Sprechstundenschwester.

 

„Es war schwierig, einen Beruf zu kriegen. Was mit Sprachen“, schwebte Gabriele Böhme Anfang der 1970-er Jahre vor. Am liebsten wäre sie Stewardess geworden. Wegen Asthma wurde nichts daraus. Aus dem Zweitwunsch Friseuse deshalb auch nicht. „Dann gehe ich ins Gesundheitswesen“, beschloss die gebürtige Dresdnerin. Sie bewarb sich 1974 in der Poliklinik Freital und „wurde sofort genommen.“

 

Nur das Wörterbuch der Medizin existiert noch        

Von 1974 bis 1977 besuchte sie die Medizinische Fachschule am Bezirkskrankenhaus Dresden-Neustadt. Aus ihrer Studienzeit besitzt die 63-Jährige keine Dokumente mehr – bis auf ein altes Wörterbuch der Medizin. Fotos auch nicht. „Leider“, bedauert Gabriele Böhme, „aber das war damals nicht so wie heute, wo alles mit dem Handy fotografiert werden kann. Nicht jeder hatte einen Fotoapparat und an Mobiltelefone war noch nicht mal zu denken.“ An ihre Lieblingsfächer erinnert sie sich: Russisch und Anatomie. „Obwohl ich medizinisches Russisch gruselig fand“, lacht sie. Zu drei ehemaligen Kommilitoninnen pflegt sie noch Kontakt. Eine davon reiste noch vor dem Mauerfall nach Westdeutschland aus, machte dort Karriere und leitet heute einen Pflegedienst im Osten der Republik.

Schreckmoment Wende mit Kündigung

Gabriele Böhme arbeitete bis 1983 in der Poliklinik Freital-Deuben, Dresdner Straße 209. Dann zog die examinierte Sprechstundenschwester, inzwischen verheiratet (seit 2009 verwitwet) und Mutter zweier Kinder, in das Neubaugebiet Dresden-Gorbitz. Sie wurde Abteilungsschwester in einer Außenstelle der Poliklinik Gorbitz, im Altgorbitzer Ring 64. Drei Ärzte und sieben Schwestern inklusive Aufnahme waren in der als Praxis eingerichteten Erdgeschosswohnung eines WBS-70-Mehrfamilienhauses tätig. Angestellt waren sie bei der Stadt Dresden. „Aller Vierteljahre wechselte ein Teil der Ärzte, sie wurden aus Kliniken in die Ambulanzen verpflichtet.“

Die Grundsteinlegung für das Neubaugebiet Dresden-Gorbitz erfolgte 1981. (Blick vom Hochhaus Amalie-Dietrich-Platz 9)

Schwester Gabriele führte die Sprechstunde einer Allgemeinmedizinerin. Die Wendezeit 1989/1990 änderte daran nichts. Es gab nur einen kurzen Schreckmoment: „Der Ärztliche Direktor kam in die Außenstelle und informierte, dass das Gebäude verkauft wird und wir alle entlassen werden.“ Das Personal wurde von der Stadt Dresden gekündigt. „Meine Ärztin fragte mich, ob ich weiter mit ihr arbeiten will.“ Die Sprechstundenschwester wollte. Gemeinsam zog das Team ins ehemalige Poliklinik-Gebäude am Platz der Bauarbeiter (heute Ärztehaus Amalie-Dietrich-Platz 5). „Es ging eigentlich nahtlos über“, blickt sie zurück. Die Patienten blieben der Praxis treu. Neue kamen hinzu. Anders als zu DDR-Zeiten, in denen Patienten nach Straßen den Ärzten zugeteilt wurden, konnten diese ihre Mediziner jetzt frei wählen.

Die einstige Poliklinik am Platz der Bauarbeiter 5 wurde 1986 eröffnet. Im heutigen Ärztehaus Amalie-Dietrich-Platz 5 praktizieren Mediziner zahlreicher Fachrichtungen von Allgemeinmedizin über Neurologie bis Zahnheilkunde.

Lernstoff: Formulare und Medikamente

„Man stellte uns eine große Kiste voller Formulare auf den Tisch und wir fragten uns, was wir jetzt damit machen sollten.“ Von einem Tag zum anderen gab es nun Einmalspritzen und Einweghandschuhe. Aber auch unzählige neue Medikamente. Das Arzneimittelbuch der DDR im Taschenbuchformat kannten Sprechstundenschwestern auswendig. „Hoffentlich fragt mich keiner“, dachte Gabriele Böhme damals. „Aber wir haben uns ‘reingefitzt.“ Über die anfängliche manuelle Abrechnung, bei der manches Wochenende geopfert werden musste, lacht sie heute. „Wir hatten noch keinen Computer. Quartalskrankenscheine mussten mit der Hand gezählt, nach Krankenkassen sortiert und mit einer Banderole versehen werden, bevor sie zur Kassenärztlichen Vereinigung gebracht wurden. Nebeneffekt: „Eines Tages waren die neuen Medikamente im Kopf.“

Einen Anpassungslehrgang zur Arzthelferin bekam Schwester Gabriele nicht angeboten. Bei Vollzeitarbeit und Familie wäre auch keine Kapazität dafür vorhanden gewesen. Zudem fragte sie sich: „Warum sollte ich das machen? Ich habe eine ordentliche Ausbildung. Die war top! Uns wurde nichts geschenkt, manchmal haben wir uns gefragt, ob wir Medizin studieren.“ Die Anerkennung ihres Examens hat sie nie beantragt. „Ich habe es gar nicht erst versucht, weil ich von anderen gehört hatte, dass es aussichtlos ist.“ Auch im Berufsverband war sie nie organisiert. Leise sagt sie: „Wir regten uns gar nicht groß darüber auf, wir haben viel hingenommen.“

Chefwechsel nach dreieinhalb Jahrzehnten

Dr. med. Sebastian Tuve übernahm die Praxis 2019.

35 Jahre lang war sie ein Team mit ihrer Allgemeinmedizinerin. 2019 ging diese in den Ruhestand. Mit Dr. Sebastian Tuve übernahm ein junger Hausarzt die Praxis und die Schwestern. Durch ihn lernte die leitende Sprechstundenschwester Gabriele noch einmal viel Neues. „Er ist jung und dynamisch und er fordert viel mehr.“ Das gefällt ihr. „Rückblickend hatte ich manchmal das Gefühl, die alteingesessenen Ärzte sind stehengeblieben.“ Mit ihrer Kollegin, Schwester Ute, teilt sie sich die Praxistätigkeiten. 24-Stunden-Blutdruck-Messungen, Blutabnahmen, Disease Management Programme, EKG, Lungenfunktionsprüfungen und und und. „Die Technik erfordert mehr Zeit als früher – das Eingetippe zum Beispiel“, schmunzelt sie. Aber auch nach 46 Jahren im Beruf macht ihr die Arbeit noch Spaß. Die letzte Weiterbildung – kurz vor Corona – absolvierte sie zum Thema Hygiene.

Dr.: „Persönlichkeit ist wichtiger als Ausbildungsart“

Drei Jahre möchte Gabriele Böhme ihrem neuen Chef unbedingt noch zur Seite stehen. Dr. Sebastian Tuve kannte den Unterschied zwischen der Ausbildung von Sprechstundenschwestern und Krankenschwestern bis zur Praxisübernahme nicht. „Ich hatte bei Schwester Gabi vermutet, dass der Abschluss eher einer MFA entspricht. Doch dagegen spricht, dass Teile der Ausbildung im Krankenhaus stattfanden“, sagt er. „Als Praxisinhaber ist für mich eher zweitrangig, welche Ausbildung meine Angestellten haben. Entscheidend ist die Person selbst und welche Eigenschaften sie mitbringt.“

Mit ihrer Praxiskollegin Schwester Ute (rechts) versteht sich Schwester Gabriele bestens.

Die Arbeit am Tresen, wo Schwester Gabriele überwiegend tätig ist, hält der Facharzt für Innere Medizin und Allgemeinmedizin für am anstrengendsten. „Nicht das Labor oder die Funktionsdiagnostik.“ Warum? „Man braucht am Empfang schon eine Menge Eigenschaften, wie freundliches Auftreten, Empathie, aber auch konsequentes Aufweisen von Grenzen gegenüber fordernd oder aggressiv auftretenden Patienten, Multitaskingfähigkeit, ein gutes Personengedächtnis, Teamfähigkeit, aber auch medizinisches Wissen, um Notfälle von Bagatellen zu unterscheiden, ein offenes Ohr für diejenigen, die es nicht beim Arzt finden konnten, und die Einschätzung der Situation von Patienten im gesamt familiären und sozialen Kontext.“ Schwester Gabi zeichne im Besonderen aus, dass sie auch bei anstrengenden Patienten freundlich und professionell ist. Dr. Tuve schätzt, dass „sie ihre Arbeit als Herzensanliegen versteht und Menschen helfen möchte.“ Zudem bescheinigt er ihr eine sehr gute Auffassungsgabe: „Sie kann sich in geänderte Abläufe, zum Beispiel bei Software, sehr schnell einarbeiten. Diese Eigenschaften bringt man als Mensch mit oder nicht. Sie können nur bedingt im Rahmen einer Ausbildung erlernt werden.“

Die Arbeit am Empfang ist anstrengender als Funktionsdiagnostik und Labor.

Vielseitigkeit des Fachs

Eine andere Fachrichtung als Allgemeinmedizin kam für Schwester Gabriele Böhme nie in Frage. „Höchstens noch Chirurgie, aber die gab es in unserer Poliklinik damals nicht“, sagt sie. Die Vielseitigkeit des Fachs begeistert sie bis heute: „Alle Patienten kommen erst einmal zu uns.“ Im Fall des Praxisstandorts in Dresden-Gorbitz heißt das auch Einstellen auf unterschiedliche Kulturen, Sprachen und soziale Milieus.

Das Lob ihres jetzigen Chefs gibt sie zurück: „Er schätzt unsere Arbeit. Mir hätte nichts Besseres passieren können.“

 

veröffentlicht im September 2020

Fotos: Dagmar Möbius