Falsch erzogen

Noch einmal Mona Krassu. Bereits nach „Freitagsfische“ war klar, dass ich mehr von dieser Autorin lesen möchte. Im August 2020 erschien ihr Roman „Falsch erzogen“. Noch umfangreicher als der Vorgänger. Und überwiegend ernst, sehr ernst. Aber extrem wichtig.

Das Werk ist in drei Teile gegliedert. Sensationslust wird nicht bedient, obwohl das Cover ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte andeutet.

Die Titelheldin, Solveig Eckstein, erzählt in ICH-Form und sie erzählt altersgemäß. Die Handlung zieht sich vom frühen Kindergarten- bis ins Jugendalter. Ein ganz normales Mädchen erlebt Eifersucht auf die nachgeborene Schwester, die beginnende Alkoholsucht des Vaters, die Trennung ihrer Eltern, den neuen Hausfreund der Mutter und Teenager-Probleme. Diese Etappen könnten Tausende erzählen. Sie wären unspektakulär, wenn sie nicht in der DDR spielen würden und somit besonders sind. Mona Krassu bildet den realen Alltag ab, sie erinnert an fast vergessene Dinge: vielbeschäftigte Erziehungsberechtigte, fragwürdige Prioritäten, aus heutiger Sicht lächerliche Rituale oder Sprachgewohnheiten.

Wie aus der tiefempfindenden Solveig eine aufsässige „Staatsfeindin“ wird, zieht sich über Hunderte Seiten. Die machen eins klar: über Nacht entfacht niemand Aufruhr. Die Bedürfnisse der Heranwachsenden werden permanent übergangen. Eine alte Dame ohne Mutterersatzambitionen zeigt ihr eine fremde Welt – und Zuwendung. Die Liebe zum Schauspiel erwacht. Als das Zuhause längst kein Zuhause mehr ist und sich das Mädchen herumgeschubst fühlt, geht sie nicht mehr zur Schule, trifft sich mit „auffälligen Jugendlichen“ und hört „falsche Musik“. Im Moment, in dem sie erfährt, was mit einer ihrer Freundinnen passiert ist, droht sie den Halt zu verlieren. Da ahnt die minderjährige Solveig noch nicht, dass auch sie unter Vorspielen falscher Tatsachen („Ferienlager“) in eine Klinik gesperrt wird, um ihr die Flausen auszutreiben. Angestachelt vom linientreuen Stiefvater.

Die Institution, eine der geschlossenen Venerologischen Stationen der DDR, war bis vor wenigen Jahren ein absolutes Tabu. Mädchen und Frauen wurden dort nicht nur zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten (zwangs-)eingewiesen, sondern nicht selten ohne jede medizinische Basis, um sie zur Staatsräson zu bringen. Behandlung ist dabei nicht das treffende Wort. Von Misshandlung, Schikanen und Folter sprechen Betroffene. Die Folgen dauern für viele bis heute. Mini-Entschädigungen, sofern überhaupt erhalten, ändern an Kinderlosigkeit und psychischen Problemen nichts.

Um an solch erlittenes Unrecht zu erinnern und künftigem Machtmissbrauch vorzubeugen, hat sich Mona Krassu bei ihren Recherchen diversen Selbsterfahrungen ausgesetzt. Genug von der DDR? Das findet die Autorin überhaupt nicht, wie sie in einem Interview bekannte. Selbstkritisch Reflektiertes zur Rolle der Ärzte, Schwestern und involviertem Personal, ebenso zuführenden Polizisten, denuzierenden Jugendämtern etc., habe auch ich bisher nicht finden können.

Diese fiktive Geschichte ermöglicht Menschen mit echtem Interesse an Historie den Zugang zu unliebsamen Themen. Gleichzeitig führt sie vor Augen, wie sich Fehlentwicklungen einschleichen, an denen Kinder und Jugendliche keinerlei eigene Schuld haben. Und sie zeigt, wie banale Gegenstände oder Bemerkungen retraumatisierend wirken können.

Mona Krassu, „Falsch erzogen“, Edition Outbird, ET: 15.08.2020, 454 Seiten, ISBN: 978-3-948887-05-6

 

Wer sich der Thematik der „Tripperburgen“ wissenschaftlich nähern möchte, sollte (wie ich) ergänzend das Buch „Disziplinierung durch Medizin“ lesen. In der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) waren auch Sprechstundenschwestern beschäftigt (S. 67 u.a.). Die Schilderungen aus Zeitzeugeninterviews durch die Forscher machen zwar wenig Lust, solche Personen kennenzulernen. Und doch muss mehr darüber ans Licht gebracht werden.

Klappentext:
In der DDR konnten Mädchen und Frauen ab dem 12. Lebensjahr in geschlossene Venerologische Stationen zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten zwangseingewiesen werden. Oft reichte dafür eine Denunziation oder der Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit, um von der Polizei, der Heimleitung oder von den Eltern auf eine solche Station gebracht zu werden.
Solche im Volksmund oft kurz und derb »Tripperburg« genannten geschlossenen Stationen gab es in fast jedem Bezirk. Auf den Stationen wurde ohne Aufklärung und Einverständnis der Patientinnen in die körperliche Integrität der Frauen eingegriffen. Die Mädchen und Frauen mussten täglich eine gynäkologische Untersuchung über sich ergehen lassen, teilweise ohne medizinische Indikation. Neben der (medizinischen) Versorgung sollten die Patientinnen in einem hierarchisch organisierten Terrorsystem zu »sozialistischen Persönlichkeiten« erzogen werden. Täglich mussten sie auf der Station oder in anderen Abteilungen der Poliklinik Arbeiten verrichten. Die Mädchen und Frauen wurden auf den Stationen körperlich wie psychisch gedemütigt und traumatisiert.
Am Beispiel der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) wird der Alltag auf einer solchen geschlossenen Venerologischen Station geschrieben. Für diese Rekonstruktion wurden neben umfangreichen Archivrecherchen Interviews mit ehemaligen Patientinnen sowie mit Ärzten, Krankenschwestern und Mitarbeitern der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) geführt.

Florian Steger und Maximilian Schochow, „Disziplinierung durch Medizin – Die geschlossene Venerologische Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) 1961 – 1982“, Studienreihe der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt (Sonderband), Mitteldeutscher Verlag, ET: 2014, 184 Seiten, ISBN: 978-3-95462-351-8

rezensiert im September 2020