Kerstin Hensel
… wollte nie Sprechstundenschwester werden

Kerstin Hensel (privat)
Aber sie hat den ostdeutschen Beruf in die Literatur eingeführt. Heute ist Kerstin Hensel Schriftstellerin und Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Laut ihrem Wikipedia-Eintrag ist sie gelernte Krankenschwester. Formal ist das nicht ganz korrekt. Und verarbeitet im Essay „Die böse Gute Stube“.

Blick ins Zeugnis
„Das lernst du jetzt“, bestimmte ihre im gleichen Beruf tätige Mutter. Einfache Leute waren das in ihrer Familie. Widerspruch gab es nicht. Also besuchte die 16-jährige Kerstin Hensel ab 1977 die Medizinische Fachschule „Walter Krämer“ am Bezirkskrankenhaus Karl-Marx-Stadt und lernte „Sprechstundenassistenz“. Die Poliklinik, in der die praktische Ausbildung stattfand, war an das Küchwald-Klinikum angeschlossen.
Gelangweilt von nicht fachbezogenen theoretischen Fächern, begeistert von Chirurgie
Die Arbeit im Krankenhaus bereitete Kerstin Hensel Freude – am meisten in der Chirurgie. „Da ging ich gern hin“, sagt sie. Richtig am Platz fühlte sich die damals trotzdem nicht. „Vom Gefühl her war ich unterfordert“, meint sie heute. „Wenn man uns drei Tage erklärt, wie man Fieber misst, hatte ich das in drei Minuten kapiert.“ Sie langweilte sich, wenn es nicht voran ging. Obwohl wie in der Ausbildung von Krankenschwestern viele Putzdienste, Räumarbeiten und Tupferdrehen auf dem Tagesplan standen. Blutdruckmessen, Medikamente verabreichen, Rezepte ausstellen und Akten bearbeiten. „Ich habe alles gemacht und dadurch viel gelernt.“ In der Unfallchirurgie und im Rettungsdienst eigenverantwortlich Wunden versorgen, Frakturen gipsen, Spülungen verabreichen. Heute schwer vorstellbar angesichts der mit der Wende beschränkten Kompetenzen.

Im Abschlusszeugnis eine 1 in Chirurgie und den Lieblingsfächern
Trotz harter Arbeit wurde in der Chirurgie viel gelacht, und die Hierarchie war flacher als in anderen Abteilungen. Chirurgie, Innere Medizin, Infektionslehre und Labor hat Kerstin Hensel als Lieblingsfächer in Erinnerung. Auf dem Zeugnis bewiesen mit jeweils der Note „1“. Anders sah es in Marxismus-Leninismus, Russisch, Statistik, Sport und Wehrerziehung aus. Aber auch hier findet sich nur zweimal eine „3“ in den Noten der überwiegend mit „Gut“ benoteten Fachschülerin.
Schreibend und lernend in der Freizeit
Doch in Gedanken war sie immer im Theater, interessierte sich für Literatur und die Künste. In ihrer Freizeit lernte sie Englisch und Französisch an der Volkshochschule und war Mitglied im Zirkel „Schreibender Arbeiter“. Das blieb nicht unbemerkt und findet sich sogar als Notiz in ihrer Abschlussbeurteilung. Nach ihrem 1980 abgeschlossenen medizinischen Fachschulstudium arbeitete Kerstin Hensel noch drei Jahre als chirurgische Schwester.
Studieren, um Schriftstellerin zu werden
1983 beginnt sie ein Hochschulstudium am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ Leipzig und arbeitet am Leipziger Theater als Assistentin. Ihre Mutter und die Ärzte aus der Poliklinik wundern sich: „Als Schwester kann man doch nicht studieren!?“ Die 22-jährige Kerstin Hensel konnte. In der DDR war es möglich, mit abgeschlossener Berufsausbildung auch ohne Abitur ein künstlerisches Hochschulstudium zu absolvieren. „Das ist auch heute noch an jeder Kunsthochschule möglich“, merkt sie an. Drei intensive Jahre folgen. Die meisten ihrer Kommilitonen waren älter als sie. 1985 wird Kerstin Hensels erstes Hörspiel „Anspann“ veröffentlicht. Zahlreiche Werke folgen.
Andere Wege als ihre Mutter und die Kommilitoninnen
„Wohin man sich entwickelt, liegt auch an einem selbst. In meiner Fachschulklasse war ich die Einzige, die in eine andere als die vorgegebene Richtung gegangen ist“, sagt Kerstin Hensel. Nach Ausbildungsende hatte sie keinen Kontakt mehr zu den rund 20 Schwesternschülerinnen.
Auch ihre Mutter sei nie auf die Idee gekommen, etwas anderes zu machen. Jahrgang 1938, gelernte Säuglingsschwester, die später beim Blutspendedienst, in der Diabetiker-Sprechstunde und 30 Jahre in einer internistischen Sprechstunde gearbeitet hat, stand nach der Wende mit 55 Jahren vor der Frage „Umschulung oder Abfindung?“. Und entschied sich für den Berufsausstieg.
Weg zur Professorin
Kerstin Hensel hat mit ihrer Zeit als Sprechstundenschwester abgeschlossen. Wesentlich mehr Jahre ihrer Karriere sind vom Schreiben geprägt. Ende der 1980-er Jahre zog sie nach Berlin. Hier lebt die freiberufliche Schriftstellerin und autodidaktische Poetik-Dozentin bis heute. Seit 1987 hatte sie einen Lehrauftrag für Deutsche Verssprache und Versgeschichte an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Auch an der Filmhochschule Potsdam „Konrad Wolf“ und dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig unterrichtete sie zeitweise. Seit 2021 ist sie Direktorin der Sektion Literatur an der Akademie der Künste Berlin.

Roman „Lärchenau“ – mit Glück antiquarisch zu bekommen
Rolle des Romans „Lärchenau“
Das Thema Chirurgie und Medizin hat Kerstin Hensel in ihrem 2008 erschienen Werk satirisch verarbeitet. „Wer mehr über mich erfahren will, muss ‚Lärchenau‘ lesen“, sagt sie. In diesem 445-Seiten-Roman erzählt sie über mehrere Epochen deutscher Geschichte den Werdegang des Arztes Gunter Konarske. Spannend, humorvoll (aber nicht nur), detailreich und gut zu lesen auch für medizinische Laien.
Schreiben gegen den Wahnsinn des Alltags
Kerstin Hensel schreibt und schreibt. Ihr zuletzt (2024) veröffentlichter Roman heißt „Die Glückshaut“. Zudem ist sie in der im Februar 2025 erschienenen Anthologie Ost*West*frau* vertreten. Darin erzählt sie ihre Motivation zum Schreiben: „Gegen den Wahnsinn des Alltags, Enge, Stumpfsinn, Lüge, Liebeskummer, Aufrüstung, Angst gegen morsche Parolen eines morbiden Staates, gegen hohle Verpflichtungen, Dummheit …“ – hineinhören kann man hier. Im März 2026 erscheint im Luchterhand Verlag der Erzählband „Abendgruß“.
veröffentlicht im Oktober 2025
Fotos (wenn nicht anders angegeben): Dagmar Möbius
