„Von wegen Essen bringen und Arsch abwischen!“

Wenn Brigitte Gollnast an die Versammlung im September 1990 an ihrer langjährigen Wirkungsstätte denkt, kann sie sich heute noch aufregen. Nicht nur für viele mittlere medizinische Fachkräfte bedeutete die Wende eine Zäsur – auch für hochschulisch ausgebildete Diplom-Medizinpädagogen wie sie änderte sich viel.

Von der MTA zur Diplom-Medizinpädagogin

Nach ihrer Ausbildung als Medizinisch-technische Assistentin (MTA) arbeite Brigitte Gollnast im Beruf, besuchte zwei Jahre die Abendschule und legte ihr Abitur ab. Danach studierte sie an der Humboldt-Universität Berlin vier Jahre Medizinpädagogik. Die Verbindung von Theorie und Praxis war ihr wichtig. So untersuchte sie in ihrer Diplomarbeit, ob Lehrende genügend Praxiserfahrung haben, wenn sie nur in der Lehre tätig sind.

Dipl.-Med.-Päd. Brigitte Gollnast hat Jahrzehnte lang Kinderkrankenschwestern ausgebildet.

Seit ihrem Examen an der Humboldt-Universität 1978 war die Diplom-Medizinpädagogin an der früheren Medizinischen Fachschule „Dr. Georg Benjamin“ am Städtischen Klinikum Berlin-Buch tätig. Seit 2018 genießt sie ihren Ruhestand. Lehrerin würde sie heute wieder werden, stellt sie klar. Aber auf keinen Fall im Gesundheitswesen. „Überall in Europa ist die Pflege akademisch, nur in Deutschland entwickeln wir uns zurück“, sagt sie. Nach fast 40 Jahren in der theoretischen Ausbildung von Gesundheitsfachberufen kann sie das beurteilen. Und es ärgert sie.

Rückwärtsrolle für die Bildung

Zwei Klassen übernahm sie in Berlin-Buch als junge Lehrerin. Sie unterrichtete überwiegend Krankenschwestern und Kinderkrankenschwestern in Psychologie/Soziologie, Infektionslehre, Mikrobiologie, Neurologie/Psychiatrie und anderen Fächern. Sie erinnert sich: „Die Schüler in den Gesundheitsberufen hatten den Status von Studenten und der Anspruch in der Ausbildung war sehr hoch.“ Bis zur Wende. Was in den 1990-er Jahren bei der Gesundheitsberufe-Ausbildung folgte, nennt Brigitte Gollnast eine verheerende Entwicklung und eine extreme Rückwärtsrolle für die Bildung. Kliniken gründeten eigene Schulen, Viele Einrichtungen etablierten eine betriebsinterne Ausbildung. Einheitliche Curricula wie in der DDR üblich gab es nicht mehr. Statt ausgebildeter Diplom-Medizinpädagogen sollte nur noch Arzt-Unterricht stattfinden. Das bedeutete für diplomierte Lehrende eine deutliche Rückstufung der Vergütung auf das Niveau von Unterrichtsschwestern.

Als junge Fachschullehrerin in Berlin-Buch (Archiv: B. Gollnast)

Herabsetzung, aber: „Keiner ist aufgestanden“

Besonders im Gedächtnis geblieben ist Brigitte Gollnast eine Lehrerkonferenz im September 1990. Vor etwa 100 diplomierten Lehrenden stellte sich der Vorstand des neu gegründeten Trägervereins der Bildungseinrichtung vor – die einst größte medizinischen Fachschule der DDR in Berlin-Buch wurde von einer Fachschule in einen Verein umgewandelt. „Ich werde nie vergessen, was der Jurist Dieter Lullies als zukünftiges Vorstandsmitglied sagte: ‚Ihre Aufgabe zukünftig ist nicht, diese Leute – gemeint waren zukünftige Krankenschwestern – zu erziehen! Was muss eine Krankenschwester können? Sie muss das Essen bringen und den Arsch abwischen!‘“ Ehrlicherweise fügt die Pädagogin hinzu: „Und keiner ist angesichts solcher Arroganz aufgestanden.“

Kampf um Gehaltsanerkennung

Aufgestanden ist sie erst einige Jahre später. Es ging Brigitte Gollnast nach der Wende wie vielen ehemaligen DDR-Bürgern: „Wir mussten schauen, wie es weitergeht. Es ging ums Überleben.“ Sie hatte zwei Kinder, ihr Mann verlor seine Arbeit und machte sich selbstständig. Sie behielt ihren Arbeitsvertrag, unterrichtete in Vollzeit, aber wurde auf ein Gehalt von 2.900 DM eingestuft.

Als die Kinder größer waren, wurde die Diplom-Medizinpädagogin in den Betriebsrat gewählt. Fünf Jahre davon leitete sie ihn. Immer wieder ging es um die Gehaltsstruktur, die Intransparenz, die Beliebigkeit der Einstufungen und die fehlende Anpassung an die Inflation.

Nach der Euro-Umstellung im Jahr 1999 bis etwa 2013 tat sich bezüglich Gehaltsentwicklung nicht viel. Die hochschulisch ausgebildeten Lehrenden verdienten so viel wie eine Unterrichtsschwester: ca. 3.500 Euro brutto monatlich. Die Geschäftsführung fragte: „Was macht Ihr mehr, dass Ihr mehr Geld wollt?“

Dann hörte Brigitte Gollnast von Lehrenden einer anderen Bildungseinrichtung, die erfolgreich für eine Gehaltserhöhung geklagt hatten. „Als Ossi den eigenen Arbeitgeber verklagen?“ Das schien ihr zunächst suspekt. Doch sie befasste sich mit der Materie, sprach mit Kolleg*innen und bereitete sich schließlich auf den Klageweg vor. Nicht alle aus dem Kollegium mit einem DDR-Diplom in Medizinpädagogik zogen mit. Das nimmt sie ihnen nicht übel. „Angst, Unruhe und Verunsicherung kann nicht Jede*r aushalten“, sagt sie. Sie brachte mehrere Wochenenden damit zu nachzuweisen, dass sie wissenschaftlich basierten Unterricht wie Berufsschullehrende hält und damit auf deutlich höherem Niveau als Unterrichtsschwestern. Es folgte ein Höhereingruppierungsverlangen und schließlich eine Arbeitsrechtsklage. Brigitte Gollnast hat ihren Prozess gewonnen und von einer Höhergruppierung plus Nachzahlung bis zum Renteneintritt profitiert. Die weiteren Klagen verliefen ebenfalls erfolgreich. Auch den nichtklagenden Kollegen wurde eine Gehaltserhöhung zugestanden.

Eine nie gehaltene Rede

In einem privaten Buch hat Brigitte Gollnast ihre beruflichen Erinnerungen humorvoll bewahrt.

Vor sechs Jahren ging Brigitte Gollnast in den Ruhestand. Sie hatte eine Rede vorbereitet, die sie nie gehalten hat. Jetzt ist die aktive Seniorin 72 und mit ihrem langjährigen Arbeitgeber im Reinen.

Die berufliche Bildung, die sie kannte und liebte, gibt es ihrer Meinung nach nicht mehr. „Die Pflege als Handlangerdienst – das ist Lichtjahre von dem entfernt, wofür ich einst angetreten bin“, sagt sie und bedauert: „Die Pflege geht sowas von rückwärts …“ Dass gute Ansätze der Pflegeausbildung auf den Prüfstand gelangen, wünscht sie sich.

 

Fotos: Dagmar Möbius

Hintergrund:

Die Bedeutung der Medizinpädagogik zeigt sich unter anderem darin, daß sie heute zu den vier bestehenden Grundstudienrichtungen des Bereichs Medizin der Humboldt-Universität zählt. Während ab 1963 in unregelmäßiger Folge nur etwa 20 bis 30 Studenten jährlich bzw. zweijährig für das Direktstudium an der Humboldt-Universität immatrikuliert wurden, begann daneben 1969 das Fernstudium für einmalig 64 Studenten, in allen folgenden Jahren mit zwei Unterbrechungen für jeweils etwa 40 Studenten, die bereits als Theorielehrer an medizinischen Bildungseinrichtungen tätig waren.

Im Studienjahr 1987/88 waren an der Abteilung Medizinpädagogik bereits 420 Medizinpädagogen in den Studienformen – vierjähriges Direktstudium, fünfjähriges Fernstudium und dreijähriges Sonderfernstudium – immatrikuliert. Wir sind stolz darauf, insgesamt für 205 medizinische Bildungseinrichtungen der Republik, so für medizinische Fachschulen, Bezirks- und Betriebsakademien, Betriebsschulen und sonstige Einrichtungen des Gesundheitswesens, Medizinpädagogen ausgebildet zu haben.

Aus einem Interview mit Prof. Dr. habil. Walter Schär, Leiter der 1970 aus einer Arbeitsgruppe hervorgegangenen Abteilung Medizinpädagogik der Charité (Q.: Berliner Zeitung, 8./9. Oktober 1988)

 

Auch an der Potsdamer Fachschule für Gesundheits- und Sozialwesen „Prof. Dr. Karl Gelbke“ wurden zu DDR-Zeiten Medizinpädagogen ausgebildet. Im April 1982 berichtete das „Neue Deutschland“, dass 330 Fernstudenten ihre Zeugnisse erhielten und exmatrikuliert wurden: 160 nach einem viereinhalbjährigen Studium in der Fachrichtung „Sozialistische Betriebswirtschaft“ und 170 Absolventen der Fachrichtung Medizinpädagogik.

(Q.: ND, 13. April 1982)
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