Der Untertitel eines aktuellen Forschungsprojektes kann kaum passender zum Launch von „Sprechstundenschwester – typisch ostdeutsch“ sein. Erste Ergebnisse stellten Wissenschaftler des Projektes „Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung“ und Gäste kürzlich in Berlin vor. Die Studie nahm in einer bundesweiten Bevölkerungsbefragung Abwertungs- und Anerkennungsprozesse von unterrepräsentierten Gruppen – hier Ostdeutsche und Muslim*innen – unter die Lupe. Über 7000 Personen wurden befragt. „Bisher gab es keine systematischen Studien zur Thematik“, sagte Professor Frank Kalter, Co-Direktor des DeZIM-Institutes. Das Team unter Leitung von Professorin Naika Foroutan vom DeZIM-Institut schließt mit seinen Untersuchungen eine empirische Lücke.
Rund 30 Jahre nach der Wiedervereinigung attestieren die Wissenschaftler zwar angeglichene Verhältnisse zwischen alten und neuen Bundesländern, doch „sind merkliche Teile der Bevölkerung noch immer weit davon entfernt, tatsächlich vergleichbare Lebenschancen zu haben. Das Lohnniveau ist nach wie vor geringer, die Arbeitslosigkeit höher und in Elitepositionen und an der Spitze von Wirtschaft und Politik gibt es eine deutliche Repräsentationslücke…“ Das gilt auch für Menschen mit Migrationshintergrund, bei denen „eine erhebliche Chancen-Lücke“ besteht.
Einige der Studienergebnisse:
Zwischen Ostdeutschen und Muslimen gibt es wichtige Parallelen, vor allem, wenn es um Stereotype geht.
„Ostdeutschen wird ähnlich oft wie Muslimen vorgeworfen, dass sie sich ständig als Opfer sehen“, sagt Prof Dr. Naika Foroutan, Leiterin des DeZIM-Instituts. 36,5% der Westdeutschen sagen das über Ostdeutsche und 41,2% über Muslime.
„Die Thematisierung der strukturellen Ungleichheiten kommt in der Mehrheitsgesellschaft also nicht gut an, sie will sie nicht wahrhaben.“
36,4% der Westdeutschen finden, dass Ostdeutsche noch nicht richtig im heutigen Deutschland angekommen sind. Damit werden Ostdeutsche tendenziell ‚migrantisiert‘. Gegen Muslim*innen ist dieser Vorwurf sogar noch stärker: 58,6% der Westdeutschen (und 66,6% der Ostdeutschen) finden, Muslim*innen seien noch nicht richtig im heutigen Deutschland angekommen.
Ein Drittel der Ostdeutschen sieht sich als Bürger zweiter Klasse (35,3%). Gleichzeitig stimmt ein ähnlich großer Teil der Ostdeutschen (33,8%) zu, dass auch Muslim*innen als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Während 36,4% der Westdeutschen die Benachteiligung von Muslim*innen anerkennt, stimmen nur 18,2% der Westdeutschen zu, dass Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse behandelt werden.
Haben soziale Gruppen ein Problem damit, wenn eine andere soziale Gruppe aufsteigt? In der Studie zeigte sich ein sehr klarer Unterschied zwischen der Bewertung von Ostdeutschen und von Muslim*innen. Während Westdeutsche nichts dagegen hätten, wenn beispielweise mehr Ostdeutsche Führungspositionen bekleiden würden, hätte ein großer Teil der Westdeutschen (33,8%) und ein noch größerer Teil der Ostdeutschen (47,6%) ein schlechtes Gefühl, wenn mehr Muslim*innen in wichtige Führungspositionen auf dem Arbeitsmarkt kämen.
Positionenschranke. Fast 40% der Ostdeutschen (37,3%) glauben, sie haben nicht den gleichen Zugang zu Positionen. Westdeutsche nehmen den ungleichen Zugang von Ostdeutschen zu gesellschaftlichen Positionen kaum wahr (18,6%). Auch hier sind sich interessanterweise Ostdeutsche und Westdeutsche einig, dass es gegenüber Muslim*innen stärkere Schließungsprozesse gibt. In beiden Fällen denkt mehr als jede zweite Person (54,1% und 52,3%), Muslim*innen haben nicht den gleichen Zugang zu gesellschaftlichen Positionen.
Fast ein Fünftel der Westdeutschen befürchtet den sozialen Aufstieg der Ostdeutschen (18,7%).
Zur Frage, wer überhaupt ein/e Ostdeutsche/r ist, wollen die Sozialforscher in Kürze eine Kurzexpertise vorlegen.
Im Anschluss an die Präsentation diskutierten Professorin Naika Foroutan, Journalistin Ferda Ataman, Anetta Kahane (Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung), Cem Özdemir (MdB Bündnis 90/Die Grünen) und Schriftsteller Ingo Schulze.
Für mich besonders interessant:
„Wäre ich Ossi (Ostler wäre genauer), wäre ich auch sauer“, gab Spiegel online-Journalistin Ferda Ataman zu. Sie nehme schon länger eine Unsichtbarkeit wahr: „Die Tagesschau ist eine westdeutsche Veranstaltung.“ Viele Biografien würden in den Medien nicht mitgedacht.
Der Dresdner Ingo Schulze fand es problematisch, „dass man immer den Osten auf die Couch legt. Man könnte auch mal den Westen auf die Couch legen, vor allem, wenn es um die Rolle der Frau oder um das Bildungssystem geht.“ Zudem habe es keine Wiedervereinigung gegeben, sondern einen Beitritt.
„Die Herkunftsdebatte setzt Stereotype fort“, meinte Anetta Kahane. „Entscheidend ist, wie wir sozialisiert wurden.“ Es gebe nicht die Ostdeutschen und es sei ein Unterschied, ob man diskriminiert wird oder sich diskriminiert fühlt.
Auch Cem Özdemir will strukturelle Ungleichheit im Jahr 2019 nicht an der Geografie ausmachen. Armut in Ostdeutschland sinke und steige im Ruhrgebiet. „Wir müssen eher eine Stadt-Land-Debatte führen“, forderte er.
Wichtig ist, dass die Studie „Ost-Migrantische Analogien“ Einstellungen untersucht, nicht die strukturellen Unterschiede selbst.
Naika Foroutan betonte: „Ohne Identitätsdiskussion können wir nicht auf Rassismus und Diskriminierung aufmerksam machen.“ Sie sieht Potenzial in den Analogien und meint: „Ungleichheiten vergiften Gesellschaften.“ Und: „Gefühle der Deplatzierung wirken lange.“
Aufmacherfoto: Dagmar Möbius
Das erste DeZIM-AL-Forum, auf dem Studienergebnisse vorgestellt wurden, fand bewusst im nichtuniversitären Umfeld – im Allianz-Forum Berlin – statt. Weitere Veranstaltungen des Formates, bei dem heutige und zukünftige Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhaltes diskutiert werden sollen, folgen.