Zum Tag der Arbeit: Kann Hilde Arzthelferin sein?

Ich bin gern vorbereitet und las Angelika Klüssendorfs neuesten Roman „Vierunddreißigster September“. Wir hatten die vielfach preisgekrönte Autorin zu einer Lesung mit Diskussion im Rahmen der Brandenburgischen Frauenwochen 2023 eingeladen. Erschienen 2021, führt das Buch in die Tristesse eines Dorfes irgendwo in Ostdeutschland. Die bildreiche Sprache zieht gleich in ihren Bann. Doch schon im ersten Kapitel – „Hilde“ – stutze ich. Auf Seite 10 lese ich, dass Hilde bis zu ihrer Rente als Arzthelferin beim Hausarzt, der eigentlich Orthopäde ist, gearbeitet hat. Wie kann das sein? Es ist die drängendste Frage, die ich Angelika Klüssendorf stellen werde.

Angelika Klüssendorf, März 2023

Dem Internet lieber nicht alles glauben

Die Schriftstellerin (Jahrgang 1958) verbrachte Kindheit und Jugend in Leipzig. 1985 reiste die gelernte Zootechnikerin/Mechanisatorin aus der DDR aus. Meine Frage fasst sie interessiert und nicht als Provokation auf. Angelika Klüssendorf hat für ihre Recherche gegoogelt. So stieß sie auf das Berufsbild „Arzthelferin“.

Das gab es in der DDR nicht, zumindest nicht in der in Westdeutschland üblichen Anwendung. Auch wenn das Geschehen im Buch zeitlos ist, ist die in der DDR verortete Hilde eher Sprechstundenhilfe (bis Mitte der 1960-er Jahre), später wäre sie Sprechstundenschwester oder ambulant arbeitende Krankenschwester.

Die Website Arbeiten in der DDR listet alle bekannten DDR-Berufe auf. Wie das Projekt Sprechstundenschwester ist sie nicht fertig und forscht weiter. Sie nennt derzeit rund 8.000 Tätigkeiten, teilweise auch Klassifizierungsnummern, jedoch keine Hintergründe. Was es laut dieser Liste gab und was ich bestätigen kann:

  • Arztschreibkraft
  • Arztsekretärin
  • Sprechstundenhelfer
  • Sprechstundenhilfe
  • Sprechstundenschwester
  • Sprechstundenschwester (FS) – Sprechstundenassistenz

Für mich ein klarer Auftrag, meine Recherchen und Veröffentlichungen zum DDR-Berufsbild „Sprechstundenassistenz“ fortzusetzen.

Arzthelfer in der DDR – ein Fortbildungsstudium

Zwischenzeugnis Arzthelfer-Lehrgang 1956 Dresden (Archiv UKD)

 

Im Archiv des Universitätsklinikums Dresden durfte ich vor einiger Zeit Einblick in historische Dokumente nehmen. An der dortigen Medizinischen Fachschule existierte zwischen 1947 und 1959 die Fachrichtung „Arzthelfer“ (nur in der männlichen Form). Dabei handelte es sich um ein Aufstiegsstudium, augenscheinlich nur im Fern- bzw. Abendstudium. Viele der Studierenden waren Krankenschwestern, die ihre Berufsausbildung in der Zeit des Zweiten Weltkriegs absolviert hatten. Interessanterweise dauerte das Grundstudium an der Fachschule für Krankenpflege Dresden Johannstadt Anfang der 1950-er Jahre nur ein Jahr. Nach dem Staatsexamen hatten Absolventinnen ein Jahr als Schwesternpraktikantin zu arbeiten, bevor sie als „Vollschwester“ eingestellt wurden.

In dem zwischen fünf Monaten und einem knappen Jahr, teilweise mit mehrmonatiger Unterbrechung, dauernden Arzthelfer-Studium wurden die Fächer

  • Gesellschaftswissenschaft,
  • Anatomie/Physiologie,
  • Krankheitsdiagnostik,
  • Chirurgie,
  • Pharmakologie,
  • Hygiene und Seuchenbekämpfung,
  • Grundzüge der Gesundheitsverwaltung und Gesetzgebung sowie
  • Infektionslehre belegt.

In einem späteren Jahrgang kamen Allgemeine und Spezielle Pathologie sowie die Differenzierung Allgemeine und Spezielle Chirurgie hinzu.

Qualifikation für mehr Verantwortung in der Pflege

Nach Aktenlage ist davon auszugehen, dass das Arzthelfer-Studium in der DDR „für verantwortlichere Funktionen in der Krankenpflege qualifizieren“ sollte. In welchen Städten außer Dresden es noch angeboten wurde, ist derzeit nicht bekannt.

Einer Absolventin wurde auf dem Zeugnis bescheinigt, über „große technische Fertigkeiten“ zu verfügen und in der Lage zu sein, „Krankheitsfälle selbständig zu beurteilen“. Unter den Arzthelfer-Absolventen befanden sich auch Männer. Diese hatten – nicht selten aus handwerklichen Berufen oder aus der Landwirtschaft kommend und annehmbar kriegsbedingt – ihre medizinische Laufbahn erst während des Krieges bzw. nach Kriegsende begonnen, beispielsweise als Sanitäter. Einige der Studierenden verließen während des Studiums die DDR gen Westdeutschland.

Ich erinnere mich an eine ältere Kollegin in der Poliklinik, die studierte Arzthelferin – und damit in einer Mittlerposition zwischen Ärzteschaft und Pflege ­– war. Sie führte eigenständig Sprechstunden und kleinere Untersuchungen durch, durfte auch Wiederholungsrezepte verordnen. Nach der Wende war ihr nur die Arbeit in einem ambulanten Pflegedienst möglich. Heute entspräche die Tätigkeit wohl am ehesten dem „Physician Assistant“.

Faktencheck Hilde

Ob Hilde nun Arzthelferin sein kann oder nicht, lasse ich offen. Auch wenn ostsozialisierte, im Gesundheitswesen Tätige über das Wort stolpern werden – das Buch lohnt sich zu lesen. Sollte Hilde in Westdeutschland geboren worden sein, hätte sie dort ab 1965 eine zweijährige Ausbildung als Arzthelferin absolvieren können. Insofern sie danach in die DDR übergesiedelt wäre, wovon im Buch keine Rede ist, wäre theoretisch alles richtig. Über erstaunliche Fähigkeiten und medizinische Kenntnisse verfügt Hilde auf jeden Fall.

 

 

Angelika Klüssendorf, Vierunddreißigster September. Piper. ET: 1. September 2021, 224 Seiten, Hardcover. ISBN 978-3-492-05990-9

 

 

 

 

Aufmacherfoto: Tara Winstead

Fotos: Dagmar Möbius

, , , ,
Ein Kommentar zu “Zum Tag der Arbeit: Kann Hilde Arzthelferin sein?”
  1. Pingback: Fernsehstar vor Pop-up-Atelier und Faktencheck – Das Sprechstundenschwester.de-Ranking 2023 – Sprechstundenschwester

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert