Dieser Text hat keinen medizinischen und keinen gesundheitspolitischen Hintergrund. Dafür einen ostdeutschen. Wenn es stimmt, dass Musik verbindet, wären „Die schönsten Balladen aus dem Land vor unserer Zeit“ als Heilmittel zu empfehlen. Live zu erleben bundesweit nur fünfmal.
Wer die Initiatorin von Sprechstundenschwester – typisch ostdeutsch länger kennt, weiß, dass sie dem Berliner Sänger Dirk Zöllner seit 40 Jahren persönlich verbunden ist. Höhen und Tiefen inklusive. Über die meisten seiner Projekte habe ich an anderen Stellen geschrieben. Alles gesagt, dachte ich. Dann kam die Nachricht, dass der selbsternannte letzte Ostrocker Die schönsten Balladen aus dem Land vor unserer Zeit in kleiner Live-Besetzung auf die Bühne bringen will. Nur fünf Termine waren angekündigt, die Tickets schnell vergriffen.
Auch der Arndt-Bause-Saal im Freizeitforum Berlin-Marzahn war restlos ausverkauft. Die meisten Anwesenden Ü50, nicht wenige an Gehhilfen und nach medizinischer Definition im Greisenalter. Das sollen diese Ostalgiker sein? Es muss eine andere Erklärung geben. Eine leuchtet besonders ein.
Was rar ist, wird begehrt. Die neu arrangierten wiederaufgeführten Lieder made in Eastgermany werden kaum im Radio gespielt. Wiederentdeckt hat sie der 1984 in Thüringen geborene Musiker Manuel Schmid, seit zwölf Jahren Sänger der 1964 gegründeten Stern Combo Meißen (heute unter Stern Meißen auftretend). Eines Tages klopfte der unter anderem auch als Produzent Tätige mit im eigenen Programm gespielten „Liedern aus einer längst vergangenen Zeit“ an Dirk Zöllners Tür…
Dirk Zöllner erkannte schnell: Dieser Jahrzehnte jüngere Mann wird ihm den Titel als „letzter Ostrocker“ abnehmen. Entstanden ist aber keine Fehde, sondern ein musikalisches Projekt. Mitten in der Corona-Pandemie, im TischKunstKombinat Köpenick. 2021 ins Internet gestreamt und heute noch auf YouTube zu sehen. Aus diesem Rockdown des Zirkus Zöllner entstand die aktuelle Bühnenversion. Und das Alphatier Dirk Zöllner bekennt schmunzelnd: „Wir haben uns Manuel Schmid unterworfen.“
Warum die Songs so zeitlos sind, erklärt der kurz und schmerzlos: „Die meisten DDR-Musiker waren musikschulgebildet.“ Das Publikum in Berlin-Marzahn klatscht wissend. Kompositionen von Holger Biege, Franz Bartzsch, Wolfgang Scheffler, Andreas Bicking, Ed Swillms, Reinhard Lakomy wurden neu arrangiert. In der Besetzung von zwei Klavieren, einem Saxophon plus Gesang und handgemachten Rhythmusklängen sind sie auf das Wesentliche reduziert. „Reichtum der Welt“, 1979 auf dem Amiga-Album Circulus von Holger Biege mit einem Text von Fred Gertz veröffentlicht, ist so ein Stück, das der Zeit weit voraus war.
Nach zweieinhalb Stunden und Standing Ovations dürfen die Musiker Manuel Schmid, Dirk Zöllner, André Gensicke und Marek Arnold die Live-Bühne verlassen. Die gehörten Stücke aus den 1970er-, 1980er-Jahren sind und werden musikalische Klassiker bleiben. Ach so: Ost-West-Debatten fanden nicht statt. Warum auch? Wenn man sich über „Nach Süden“ einig ist.
Aufmacherfoto: Dagmar Möbius
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