Im Pop-up-Atelier für Nachwendegeschichten

Künstlerin Katja Tannert

Eine Zeitungsmeldung änderte die Sonntagsplanung spontan. Am Vorabend hatte die Vernissage zur Pop-up-Ausstellung „OSTGLUT“ stattgefunden. Eine Woche lang ist sie zu besichtigen. Also nichts wie hin nach Berlin-Mitte. Was die 1978 in Frankfurt/Oder geborene Künstlerin Katja Tannert zu Ihrem Projekt motivierte? Auch die Nichtanerkennung von DDR-Berufsabschlüssen nach der Wende.

 

 

Kurzzeit-Ausstellung im passenden Flair

Noch bis 22. April 2023 ist im Berliner Haus der Statistik, Nähe Alexanderplatz, OSTGLUT, das Atelier für Nachwendegeschichten eingerichtet. Von Weitem sieht alles nach Mega-Sanierungsobjekt aus. Entlang des Bauzauns mit farbenfrohen Flyern und Pfeilen gelangt man zum Hangar „Otto“.

„Ist das hier richtig?“ Ein Paar schaut sich fragend um und geht hinein. Abenteuerlich. Immer noch Baustellenflair. Container. Fensterelemente, Biertischgarnituren, leere Flaschen auf dem Boden, eine Freiluftküche. Ein Pfeil weist auf eine unscheinbare Tür. Dahinter ein dunkler Gang. Wenn man wieder überlegt, ob man hier richtig ist, ist man es. Willkommen in der Ausstellung.

Lebensgeschichten und Performances

Seit August 2022 hat die Schauspielerin, Tänzerin und Regisseurin Katja Tannert mit einem 13-köpfigen Team intensiv an der Umsetzung ihrer Idee gearbeitet. Sieben Familienmitglieder aus zwei Generationen hat sie interviewt und nach ihren Erinnerungen gefragt: Ihre Cousine und ihren Cousin aus Dresden, ihre Eltern aus Frankfurt/Oder sowie Onkel und Tanten aus Berlin bzw. Müllrose. Hinter großformatigen Fotos der Befragten an Plexiglaswänden verstecken sich Minibildschirme. Mit Kopfhörern kann den biografischen Erzählungen gelauscht und den performativen Videos, in denen die Initiatorin Berichtetes auf ihre Art in Szene setzt, zugeschaut werden.

Impression der Pop-up-Ausstellung

Berufliche Vollbremsung nach der Wende

Alles schon mal gehört? Von wegen. Alle Personen berichten über gravierende Änderungen ihres beruflichen Lebens nach der Wende. Ob sie gerade angefangen hatten zu studieren, ob sie im ehemaligen Halbleiterwerk, im Finanzministerium oder in der Grundschule arbeiteten. Der Zugang zu ihnen gelang über das familiäre Vertrauen. Zwar war niemand der Vorgestellten im Gesundheitswesen beschäftigt, aber Parallelen offenbaren sich. Katja Tannerts Vater, studierter Chemiker mit 19 Jahren Berufserfahrung, bezeichnet die Situation vieler Ostdeutscher zur Wende als „Vollbremsung“. „Meine Mutter hat sechs verschiedene Berufe.“ Auch die Horterzieherin Tante Gila musste nach zwei Jahrzehnten einen halbjährigen Anpassungslehrgang absolvieren: „Da haben sie uns beigebracht, wie man Gipsmasken herstellt und ein Professor über 60 hat uns erzählt, wie man kleine Kinder erzieht…“ Amüsant und ernst zugleich ist das Video, das erzählt, wie Finanzexpertin Tante Petra die erste gesamtdeutsche Steuererklärung bastelte.

Es geht um die Anerkennung der Abschlüsse

Für Westdeutsche, später Geborene und Zugezogene mag das lustig klingen. Für Ostdeutsche brachte die deutsche Wiedervereinigung gravierende Lebenseinschnitte, die mit Existenzangst verbunden waren und im öffentlichen Bewusstsein viel zu selten vorkommen. Auch oder gerade, weil alle Vorgestellten ihren Weg gegangen sind und sich nicht als „Wende-Verlierer“ sehen, möchte Katja Tannert die Anpassungsleistung, die Eigeninitiative, die Kreativität und auch ein Stück Widerstandsgeist zeigen. „Es geht um die Anerkennung der Abschlüsse“, fasst die Initiatorin zusammen. Und: „Man muss so ein Projekt jetzt machen. Es ist weit genug weg, damit es keine Konsequenzen mehr hat.“ Die Elterngeneration genießt inzwischen ihren Ruhestand.

Katja Tannert und ihre Eltern, im Hintergrund der “Runde Tisch”

Einen statt Spalten am Runden Tisch

Katja Tannert wünscht sich mehr Sympathien für ostdeutsche Biografien. Für das Projekt hat sie eine Prozessförderung vom Fonds Darstellende Künste erhalten. Das heißt, sie „kann ausstellen, muss aber nicht“. Doch gerade das ist ihr wichtig. Besuchende sind eingeladen, mit ihr am „Runden Tisch“ etwas zu trinken und zu diskutieren. Wie es nach der einwöchigen Pop-up-Ausstellung weitergeht? „Sie ist erst der Anfang“, schmunzelt die Künstlerin. Ausstellungsorte in Westdeutschland wünscht sie sich vor allem. „Die 90-er Jahre müssen erzählt werden.“ Fortsetzung folgt, so viel ist klar.

 

OSTGLUT ist bis 22. April 2023, täglich von 12 bis 20 Uhr, im Hangar „OTTO“ am Haus der Statistik, Otto-Braun-Straße 70-72, Berlin-Mitte, zu sehen. Eintritt: 3-5 €.

Am Mittwoch, dem 19. April 2023, 17 Uhr findet eine Diskussion mit Buchautor Dirk Oschmann („Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“) statt. Die Finissage ist am 22. April 2023, 15 Uhr.

Fotos: Dagmar Möbius

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