Vor genau einem Jahr besuchte ich Quedlinburg, um zu erkunden, was vor Ort über die weitgehend vergessene Medizinische Fachschule „Dorothea Christiane Erxleben“, kurz Medifa, bekannt ist. Dass der Beitrag erst jetzt erscheint, liegt daran, dass ich nach konkreten Fakten lange suchen musste: mit Einheimischen, in historischen Zeitungen, bei einem früheren Lehrer der Schule und in einem Buch aus dem Antiquariat.
Für einen Einstieg ins Thema empfiehlt sich ein Text der Internationalen Forschungsstelle DDR (IFDDR) , übrigens auch in Englisch, Spanisch und Portugiesisch zu lesen.
Medizinische Kaderschmiede für junge Nationalstaaten

Die einstige Medifa wurde 1989 geschlossen.
Nach bisherigem Forschungsstand wurden in Quedlinburg nie Sprechstundenschwestern ausgebildet. Die Medifa war eine zentrale „Ausbildungsstätte ausländischer Bürger junger Nationalstaaten“. Mehr als 2.000 Personen aus über 60 Ländern studierten hier oder wurden ausgebildet. Neben Krankenschwestern und Krankenpflegern, Physiotherapeut*innen, Medizinpädagog*innen, Hebammen und Orthopädiemechanikern werden auch Arzthelfer genannt. Das lässt aufhorchen, war doch diese DDR-Ausbildung ein hochschulisches Studium und für eine zwischen Medizinern und Pflege liegende Tätigkeit gedacht, die bis Mitte bzw. Ende der 1950-er Jahre zum Beispiel an der Medizinischen Akademie in Dresden angeboten wurde.
Spezifisches Arzthelfer-Studium auf Erfordernisse der Länder ausgerichtet
Ulrich Kolbe, der von 1987 bis 1991 als Lehrkraft für Deutsch als Fremdsprache unterrichtete und heute in den USA lebt, kann aufklären. Er sagt:

Rückansicht der langjährigen Medizinischen (Fach)Schule.
„In der Tat war es so, dass an der Medizinischen Fachschule „Dorothea Christiane Erxleben“ Arzthelfer aus jungen Nationalstaaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ausgebildet wurden. Dies ging auf Bitten der entsendenden Staaten bzw. nationalen Befreiungsbewegungen zurück, die in der DDR vermittelten Standard-Lehrinhalte bzw. Berufsprofile den dortigen Gegebenheiten anzupassen. Eine sture Ausrichtung auf die Lehrpläne für die Ausbildung von Krankenschwestern in der DDR hätte dort nicht in jedem Fall genützt, da eine Krankenschwester unter den Bedingungen eines (von den kolonialen Mächten) aufgegebenen, nichtexistierenden oder erst im Aufbau befindlichen nationalen Gesundheitswesens eben weitaus verantwortungsvollere und zum Teil gänzlich andere Aufgaben zu erfüllen hatte als eine ausgebildete Krankenschwester in der DDR. (Gleiches betraf die Ausbildung der als Multiplikatoren verstandenen Medizinpädagogen.)
Es ging in unserem Fall also um eine spezifische DDR-Ausbildung für mittleres medizinisches Personal aus dem Ausland, nicht um eine Übernahme der Berufsbezeichnung oder -inhalte aus der BRD.“

Zeitungsartikel über die angehende Krankenschwester Maria Antonia Hernandez aus Nikaragua.
An Sprechstundenschwestern in Quedlinburg kann sich auch Ulrich Kolbe nicht erinnern. Aber an gemischte Gruppen der Sprachausbildung, in denen angehende Laborantinnen, Röntgenassistentinnen (MTA), Physiotherapeutinnen und Feldscher lernten.
Die Zeitung „Neue Zeit“ vom 2. Oktober 1981 (Seite 3) stellt unter anderem die 25-jährige Maria Antonia Hernandez aus Nikaragua vor, die in einer Poliklinik tätig war und Krankenschwester wird.
Im „Neuen Deutschland“ vom 12. August 1987 (Seite 2) ist zu erfahren, dass seit 1985 „nach längerer Pause auch wieder medizinische Assistenten ausgebildet. Diese künftigen Arzthelfer – ggw. 18 Angehörige der SWAPO und des ANC sollen relativ selbständig eine medizinische Versorgung der Bevölkerung in abgelegenen Gebieten gewährleisten.“
Spurensuche vor Ort

Bahnhof Quedlinburg mit Statue von Dorothea Christiane Erxleben.

Wegweiser zum Harz-Klinikum
Die Stadt Quedlinburg wurde 1994 zum UNESCO-Welterbe erklärt und ist in jeder Jahreszeit eine Reise wert. Am Bahnhof begrüßt Dorothea Christiane Erxleben (1715-1762), die als erste deutsche Ärztin in Quedlinburg lebte und wirkte, die Ankommenden. Von hier aus erreicht man das Harz-Klinikum nach etwa 20 Minuten Fußweg.

einstiges Studentenwohnheim
Die bekannte Adresse entpuppt sich als Plattenbau. Heute sind im Haus 9 mehrere Arztpraxen, Betreutes Wohnen, eine Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, die Patientenverwaltung sowie in den oberen Etagen Appartements untergebracht. Von Einheimischen ist zu erfahren, dass sich hier früher das Internat für die Studierenden befunden haben soll.
Auch am benachbarten Haus 8 wirbt ein Banner „Wohnungen zu vermieten“. Im Gebäude befinden sich zwei Arztpraxen, ein Betreutes Wohnen, ein Pflegezentrum und ein Ambulanter Pflegedienst. Zwei Mitarbeiterinnen am Empfang wissen vom Hörensagen, dass das Haus früher eine Geburtsklinik beherbergte.

Schwesternschule, Kinderstation, Geburtsstation, Medifa und heute Betreutes Wohnen.
Von einer Medizinischen Fachschule haben sie nichts gehört. Auch die eigens herbeigeholte dienstälteste Schwester kann nicht weiterhelfen. Im Treppenhaus weisen Schilder den Weg zum EDV-Schulungsraum, zur Betriebsärztin und zur Häuslichen Krankenpflege. Historische Beschriftungen finden sich nicht. Vor der verschlossenen Tür zum Pflegedienst hängt ein Bild „Alles was wir haben ist das Jetzt“.
- Alles was wir haben ist das Jetzt.
- Im Treppenhaus.

Quedlinburger Rathaus.
Im Klinikarchiv, in Personal- und Presseabteilung, sogar im Quedlinburger Rathaus ist die „Medifa“ tatsächlich so gut wie vergessen.
Historische Rekonstruktion

Version 1.0.0
Dank Stefan Wolters Buch „Für die Kranken ist das Beste gerade gut genug“, 2007 zum 100. Jubiläum des Krankenhauses erschienen und mit Glück antiquarisch zu erhalten, ist doch noch einiges zu rekonstruieren.
Hier einige Meilensteine:
- Staatlich anerkannte Schwesternschule seit 1907
- 1946 – 1956 Säuglings- und Kinderabteilung
- 1956 – 1971 geburtshilfliche Abteilung
- ab 2. Januar 1951 selbstständig als staatliche Fachschule für Krankenpflege
- zunächst zweijährige Ausbildung in der Krankenpflege, davon ein Jahr Theorie, ein Jahr Praxis
- „Schulschwestern“ ohne pädagogische Qualifikation leisteten Erziehungsarbeit
- Fachlehrer unterrichteten fachspezifische und allgemeinbildende Fächer
- wöchentliche Ausbildungszeit: 50 Stunden
- Juni 1955 Verleihung des Namens „Dorothea Christiane Erxleben“ an die Schule
- September 1961 20 Bürger aus Mali reisten an, nach einem Jahr Deutschkurs begannen 14 ihre Ausbildung zum Arzthelfer
- 1962 – 1968 Profilierung als Ausbildungsstätte für ausländische „Bürger junger Nationalstaaten“ im Status einer Berufsschule und direkt dem Krankenhaus unterstellt
- bis 1971 wurden 480 Bürger aus ca. 30 Ländern in mittleren medizinischen Berufen ausgebildet
- ab 1974 Medizinische Fachschule, Diplommedizinpädagogen übernahmen die Ausbildung
- Ende 1989: die Medizinische Fachschule wird aufgegeben
- 1994 eröffnete eine Krankenpflegeschule am Klinikum
Der Buchautor vermerkt, dass auch er keine Unterlagen über die Schule auftreiben konnte.

Das neue Gebäude mit der Cafeteria des Harz-Klinikums beherbergt auch eine moderne Krankenpflegeschule.
Fotos: Dagmar Möbius