Keine Anerkennung wegen zu viel ML?

Teil V meines Interviews mit dem Vizepremier und letzten Innenminister der DDR, Dr. Peter-Michael Diestel, beschäftigt sich mit einem fragwürdigen Ablehnungsgrund bei Anerkennungs- bzw. Gleichstellungsanliegen.

Teil V

Foto: ©Herr Direktor (2021) Sprechstundenschwester.de interviewt Dr. Peter-Michael Diestel in seinem Arbeitszimmer.

Da es keine offiziellen Statistiken gibt, in denen sich die Anerkennungsversuche von examinierten Sprechstundenschwestern abbilden, werfe ich einen – meist infolge Nachfragen oder Beschwerden mündlich geäußerten – Ablehnungsgrund in den Ring. Demnach meinten die Behörden (oder einzelne Beamte), das Studium „Sprechstundenassistenz“ habe zu viele Stunden „Marxismus-Leninismus“ enthalten und sei staatsnah gewesen. Müsste dann nicht Ärzten, Ingenieuren, Journalisten, Juristen, Lehrern, Ökonomen und sonst wem noch das Diplom und/oder DDR-Staatsexamen aberkannt werden?

Was Sie mir jetzt vorlesen, ist schlicht Dummheit. So dumm, wie wenn Sie nur mit zwei a schreiben. Das haben Menschen geschrieben, die das Gefühl haben, sie haben über den Sozialismus gesiegt. Aber es ist alles anders gewesen. Die deutsche Einheit haben die Ostdeutschen erstritten und nur die Ostdeutschen für alle Deutschen. Die deutsche Einheit ist ohne Dazutun des Westens geschehen.

Das, was Sie jetzt vorgetragen haben, ist dumme, tumbe Siegerpolitik. Wenn Sie davon ausgehen, dass Karl Marx und Friedrich Engels sehr kluge Wissenschaftler waren – in jeder mittelgroßen bundesdeutschen Stadt gibt es die Friedrich-Engels-Straße und die Hermannstraße. Es ist völlig normal. Wenn man in Marxismus-Leninismus ordentlich aufgepasst hat, hat man schon die Bewegungsmechanismen unserer heutigen Gesellschaft kennengelernt.

Das als Grund zu nehmen, ist falsch. Das wäre ungefähr so, wenn heutzutage alle Doktorarbeiten von allen bundesdeutschen Politikern infrage gestellt und aberkannt würden. Aber nicht eine einzige Doktorarbeit von einem Ostdeutschen. Verstehen Sie? Jetzt müsste man dazu übergehen und sagen: Die sind da drüben im Westen so dumm, die können nicht mal ihre Doktorarbeiten selber schreiben. Und sie müssen sich überführen lassen. Das sind peinliche Geschichten.

Was Sie jetzt vorlesen, ist kein Scherz. Oder personifizierte Dummheit. Man hat einfach keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Dieses Argument kenne ich aus vielen, vielen Berufungsverfahren, das habe ich immer rechtlich zerstört. Aber dass so etwas heute noch aufgeschrieben wird oder dass man, weil es irgendwann vor Jahren aufgeschrieben wurde, dass man das akzeptiert und so im Raum stehen lässt, das ist Schwäche.

Und ich werfe meinen Landsleuten, die ich mal in die deutsche Einheit geführt habe, partiell vor: Sie kämpfen zu wenig, sie schreien zu wenig, sie lassen sich zu viel Dummheit gefallen, sie lassen sich zu viel Bevormundung gefallen. Jetzt allerdings bin ich stolz auf die Ostdeutschen, weil sie diese Bevormundung der Mächtigen mit massivsten Widerständen begegnen. Die Ossis haben begriffen, wie wichtig die Grundrechte sind. Die Ossis haben begriffen, was das Grundgesetz für eine wichtige, für sie auch geltende Verfassung ist.

Im Westen hat man sich leider, leider damit abgefunden mit diesen Grundrechtseinschränkungen. Auch die Ostdeutschen kämpfen dagegen. Und das macht mich stolz. Und das zeigt mir auch, dass wir viel bunter sind. Die Ostdeutschen auszugrenzen, weil sie 35 Stunden Marxismus-Leninismus studiert haben… Wenn man in Buch liest, wird man klüger. […] Heute lesen die gar nicht mehr. Ich finde, das Argument „Du hast ein Buch zu viel gelesen und deswegen können wir Deinen Berufsabschluss nicht anerkennen“, ist … Ich habe genug gesagt dazu, und das ist wiederum die Unfähigkeit der deutschen Verwaltung und der Deutschen und auch der Hass, der da entsteht den neuen Bundesbürgern gegenüber. Ich hätte mich gefreut, wenn die Interessenvertreter dieser Berufsgruppe vor zehn, 15 Jahren mal auf mich zugekommen wären.

Fortsetzung folgt

Teil I hier

Teil II hier

Teil III hier

Teil IV hier

 

Anmerkung:

In den DDR-Studienplänen der Fachrichtungen „Krankenpflege“ und „Sprechstundenassistenz“ von 1974 (dreijähriges Direktstudium), die ich u.a.in meiner Bachelorarbeit analysiert habe, waren jeweils 305 Stunden in Marxismus-Leninismus (ML) ausgewiesen. Insgesamt hatten beide Berufe einheitlich 4.867 Stunden Theorie und Praxis zu absolvieren. ML entspricht einem Anteil von 6,26 %. Demgegenüber standen praktische Lehrveranstaltungen 2.797 Stunden (Krankenschwester, -pfleger) bzw. 2.904 (Sprechstundenschwester). Das sind 57,46 % des Gesamtpensums in der Fachrichtung „Krankenpflege“ bzw. 59,66 % in der Fachrichtung „Sprechstundenassistenz“.

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