Organisierte Diskriminierung

Im letzten Teil VII meines Interviews mit dem Vizepremier und letzten Innenminister der DDR, Dr. Peter-Michael Diestel, geht es um komplexe Ausgrenzung und Diskriminierung.

Teil VII

Foto: ©Herr Direktor (2021)
Sprechstundenschwester.de interviewt Dr. Peter-Michael Diestel in seinem Arbeitszimmer.

Wenn eine Krankenschwester in der DDR ihr Studium abgeschlossen hat und anschließend 25 Jahre Hausfrau war, konnte sie problemlos wieder in den Beruf einsteigen, obwohl sich im Gesundheitswesen sehr viel geändert hat. Von Sprechstundenschwestern mit jahrelanger Berufserfahrung in Praxis oder Klinik verlangte man nach der Wende, eine erneute Ausbildung zu absolvieren, was allein aus finanziellen Gründen für die wenigsten praktikabel war. Ist das schon Diskriminierung aufgrund der Herkunft?

Natürlich ist das ganz eindeutig diskriminierend. Das ist das, was ich politisch seit Jahrzehnten sage. Das ist organisierte Diskriminierung ostdeutscher Lebensläufe. Das muss man ja auch machen, weil man diese klugen Menschen von der Führung und den gesellschaftlichen Prozessen in Ostdeutschland fernhält.

Wenn Sie sehen, wer in Ostdeutschland über diese Fragen entscheidet. Es sind alte Bundesdeutsche, es sind Menschen, die ohne diese Berufsgruppe groß geworden sind. Wenn Sie sehen, welche Professoren an welchen Lehrstühlen der Universität zu entscheiden haben. Es sind Leute aus Hannover, Kiel, Hamburg, München. Wer weiß woher. Aber keine Ostdeutschen. Das ist Ergebnis dieser umfangreichen, permanenten Ausgrenzung ostdeutscher Substanzen.

Und deswegen ist auch der Dilettantismus, der uns in der Politik und überall umgibt, ebenso grenzenlos. Wir kriegen keine Flughäfen mehr fertig gebaut, keine Autobahn. Deutschland hat in fast allen Bereichen die Weltspitze abgegeben in der Industrie, in der Autofertigung usw. und so fort. Man hätte die Ostdeutschen nicht so ausgrenzen dürfen. Ihr Beispiel mit diesen Sprechstundenschwestern ist dümmliche Ausgrenzung.

Eine Krankenschwester, die 20 Jahre zu Hause ihrem Beruf nicht nachgehen konnte, ist natürlich genauso bedürftig, sich wieder einzuarbeiten wie eine Sprechstundenhilfe, Entschuldigung, eine Sprechstundenschwester. „Wir erkennen den Beruf nicht an und weil der Beruf nicht anerkannt ist, müssen Sie noch mal neu studieren und neu lernen“, das ist einfach Dummheit. Gerade jetzt, wenn man sieht, wie viele Schwestern fehlen, wie viele in den Krankenhäusern, in den Ambulanzen. Durch diese Seuche, in der wir jetzt erleben, wird besonders deutlich, dass uns diese Dummheit eben geschadet hat.

Zum Schluss habe ich noch eine Frage zu Ihrem Buch In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit. Rückblicke. Möchten Sie sagen, wofür Sie konkret im Moment kämpfen? Und wann, glauben Sie, wird es keine Unterschiede mehr geben zwischen Ost- und Westdeutschland?

Also dieses Buch hat ja einen langen Titel. Lange Buchtitel sind modern geworden. In dem ersten Teil habe ich geschrieben: „Ich war in der DDR glücklich.“ Der muss verhaltensgestört sein, der war glücklich und schafft die DDR ab. Aber wer das Buch liest, wird das schnell verstehen.

Zum zweiten Teil, nach dem Sie mich gefragt haben. Ich kämpfe für die deutsche Einheit – die gibt es nicht. Ich erlebe die größte Ausgrenzung, die es hier in Deutschland gegeben hat. Es hat nie eine größere Ausgrenzung gegeben als die der Ostdeutschen. Im 30. Jahr nach der deutschen Einheit kann man sagen, dass Ostdeutsche vollständig ausgegrenzt sind. Wenn Sie sich die Oberlandesgerichte in Deutschland, Ostdeutschland angucken, dann werden Sie feststellen: Es sind ausschließlich altbundesdeutsche Richter. An dem Landgericht ist es nicht anders, bei den Staatsanwaltschaften ist es so. Gehen Sie in die ostdeutschen Ministerien und gucken Sie an, wer der Staatssekretär ist. Wir haben alles Altbundesdeutsche. Auch wenn der Ministerpräsident aus dem Osten kommt, versucht man meistens mit diesen Pappnasen, mit diesen blassen Figuren dieses Thema zu übertünchen. Und die Bundeskanzlerin ist eine Ostdeutsche. Das Ergebnis des Lebens. Ergebnis Angela Merkel ist die vollständige Ausgrenzung ihrer Landsleute aus der gesellschaftlichen, justiziellen, verwaltungsrechtlichen Struktur des Vaterlandes. Die vollständige Ausgrenzung. Das sind Fakten, die ich einfach so sagen kann. Die hat auch der SPIEGEL schon veröffentlicht. Es ist immer dasselbe. Es ist verfassungswidrig. Es ist grundgesetzwidrig, was wir erleben. Und trotzdem sagen alle: „Nö, dann ist es eben so.“

Wann wird das beendet sein? Sind wir alle Deutsche? Wir werden immer Deutsche zweiter Klasse sein. Deutscher erster Klasse, die mit dem Glück der westlichen Geburt auch den Osten okkupieren durften. Deutsche zweiter Klasse sind die in Ostdeutschland, die für alle Ostdeutschen das Kreuz des Kommunismus getragen haben, weil alle Deutschen den Zweiten Weltkrieg verloren haben und nicht nur wir Ostdeutschen. Und die dann auch diesen Stalinismus besiegt haben. Das haben nur die Ostdeutschen gemacht. Und deswegen ist das Ausgrenzung dieser großen Menschengruppe, ist das Verrat am großen Ereignis, am großen Ergebnis der deutschen Einheit.

Das war mit dem einen Vertrag, über den wir geredet haben, das war mit dieser großen Sehnsucht zur deutschen Wiedervereinigung nicht ausgemacht. Und dafür müssen sich die Mächtigen in diesem Lande schämen. Weil sie es nicht begreifen, werden sie die Ostdeutschen nicht beherrschen können. Die Ostdeutschen sind aus Büchern entfernt. Westdeutsche sind sogar die Abgeordneten der Ostdeutschen. Wenn sie die mal durchgehen, werden Sie feststellen, dass unendlich viele Bundestags- und Landtagsabgeordnete aus dem Westen kommen. Aber nicht ein einziger im Westen kommt aus dem Osten. Wenn ich mich als Diestel in Hamburg hinstellen würde und dort Oberbürgermeister oder Senator werden wollen, kämen die vor Lachen nicht in den Schlaf. Aber umgedreht ist es das Normale, verstehen Sie? Das ist Ausgrenzung, das ist ein Denken des Faschismus. Das kann man auch so sagen, weil es so ist. Und deswegen rede ich so laut und deutlich und engagiert dagegen.

Wenn Sie das Fernsehen andrehen, dann sehen Sie Kai Pflaume. Kristin Otto. Und das war’s. Ab und zu Katarina Witt. Das sind die ostdeutschen Beiträge dieser deutschen Unterhaltungskunst. Es ist einfach lächerlich. Dabei haben wir hervorragend ausgebildete Schauspieler, Sänger, Kulturschaffende und dergleichen. Aber im Rahmen der komplexen Ausgrenzung war das problematisch. Und wenn man darüber nachdenkt, dann sagt man: Ganz so abwegig ist es nicht, was der erzählt. |

 

Anmerkung:

Das Interview wurde im Februar 2021 geführt.

Aufmerksam Lesende werden bemerken, dass ich einige im Interview besprochene Aspekte in meiner Bachelor-Arbeit aufgegriffen habe – obwohl ich keine Juristin bin.

Für sein Vertrauen, die Impulse und Denkanregungen bin ich Dr. Peter-Michael Diestel sehr dankbar. Er hat wesentlichen Anteil daran, dass ich weiterhin zu den Belangen der examinierten Sprechstundenschwestern und anderer DDR-Gesundheitsfachberufe forsche.

 

Teil I – Mit Widerstand viel erreichen

Teil II – Redaktionelle Fehler

Teil III – Niemand fällt durchs Rost – mit TV-Tipp

Teil IV – Fehlende Rechtsmittelbelehrung

Teil V – Keine Anerkennung wegen zu viel ML?

Teil VI – Option Klage

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Ein Kommentar zu “Organisierte Diskriminierung”
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